■ Nachschlag: Königin Victorias Leben als Liederabend im Hebbel-Theater
Sessel, Schreibtisch, Piano, eine Zimmerpalme, eine hinreißende Prunella Scales – „Oh dear, we were so much amused!“ Aus Briefen, Tagebüchern und verbürgten Aussprüchen hat Katherina Hendrey die Textcollage „An Evening with Queen Victoria“ gebastelt, dies in geglückter Symbiose mit Richard Burnett (on piano) und mit Ian Partrige, dessen Fach man früher einmal lyrischer Tenor nannte.
Die Show lief bereits, wohin die britische Zunge reicht, um schließlich erstaunlich unverschlissen im Hebbel-Theater zu landen. Quasi als Begleitprogramm der Ausstellung „Victoria and Albert, Vicky and the Kaiser“. Was jene Ausstellung, ein Sammelsurium zeitgenössischer Scheußlichkeiten, verfehlte, löste Prunella & Band ein: sie entwarf ein zartes, sehr ironisches, mitunter auch schroff konturiertes Bild Victorias, der Frau, die 64 Jahre lang das entstehende britische Empire regierte und die der Epoche ihren Namen gab.
Wer jemals Lytton Stracheys glänzende Biographie der Königin/ Kaiserin zur Hand genommen hat, weiß schon, daß Victoria ziemlich wenige der ihr zugeschriebenen Werte verkörperte. Sie haßte es, Kinder zu bekommen (sie bekam neun), wäre liebend gerne mit Albert, ihrem über alles vergötterten Prinzgemahl, allein geblieben. Auch war sie, bis zum Tod des Herrn von Sachsen-Coburg-Gotha, Vergnügungen nicht abgeneigt, sofern sie die Grenze des Schicklichen nicht allzuweit überschritten. Victoria gab sich romantischen Stimmungen hin, wovon auch ihre exzessiv lange Trauer nach Alberts Ableben zeugt; sie schwelgte in den Schönheiten Schottlands und der Urtümlichkeit seiner Einwohner. Die „Blätter aus dem Tagebuch unseres Lebens in den Highlands von 1848 bis 1861“, maliziös rezitiert von Prunella Scales und von Ian Partriges Tenor einfühlsam eingerahmt, beschwören diese Gefühlswelt wieder herauf.
Politisch entwickelte sich Victoria von einer Anhängerin der Whig-Reformer (sie verehrte den alten Zyniker Lord Melbourne) zu einer steinharten Konservativen (ihr Favorit war Benjamin Disraeli, der ihr die indische Kaiserwürde schmackhaft machte). Gladstone verabscheute sie, denn „er will genauso über mich herrschen wie Bismarck über die Deutschen“. Als alte Dame wurde sie über alle Maßen geliebt – auch und gerade von den „Massen“. Das wunderte sie ein wenig. „Schließlich“, so Prunellas Victoria in affektiert- bescheidenem Ton, „tue ich nur meine Pflicht.“ Christian Semler
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