■ Nachschlag: Bissig und bösartig: Eine Lesung aus Brigitte Reimanns Tagebüchern
Oft wird es einfach peinlich. Männergeschichten jagen durchzechte Nächte, keine Umarmung, kein Kuß, aber auch kein Kauf eines neuen Kleids darf fehlen. Brigitte Reimann, 1933-1973, gehörte sicher nicht zu denen, die Tagebuch schreiben, damit es in die Weltliteratur eingeht. Was also bringt einen Menschen dazu, sich an einem sonnigen Sonntagvormittag in die düstere Probebühne des BE zu begeben? Wer gekommen war, um in aller Öffentlichkeit einen lüsternen Blick durchs Schlüsselloch auf ein Leben zu werfen, wurde enttäuscht. Annemone Haase überging die Intimitäten, die die Reimann besonders im ersten Band ihrer Tagebücher fleißig auszuwälzen pflegte. Sie las Textauszüge aus dem gerade erschienenen zweiten Band ihrer Tagebücher von 1964-1970 (soeben im Aufbau Verlag erschienen). Und diese gewährten einen unerwarteten Einblick in den Alltag in der DDR zu einer Zeit, in der Reimann wie das Gros der wichtigen Schriftsteller begann, sich von einem System abzukehren, dessen Ideologie sie für ihre Utopie gehalten hatte.
Brigitte Reimann gehörte zu der mittleren Schriftstellergeneration der DDR, die um 1960 berühmt wurde und die die Mauer als Chance empfanden, sich ungestört und kritisch mit den Problemen im eigenen Land auseinanderzusetzen. So schreibt sie in ihren frühen Tagebüchern von der Bereitschaft, „für den Humanismus zu leiden“. Durch die Schließung der Grenzen wurde aber auch die Kulturpolitik der DDR immer restriktiver. Brigitte Reimann verliert zunehmend die Hoffnung, in ihrem Land etwas ausrichten zu können. Die Jugendkommission beim Politbüro des ZK der SED bezeichnet sie bissig als eine „Diktatur der Hohlköpfe“ und berichtet, daß der Chef der Ideologischen Kommission in seiner Freizeit Kissenplatten stickt, mit Stadtwappen und Spruchbändern.
Ihr Tagebuch wird besonders dort zu einer Fundgrube, wo sie sich trotz allem unfähig zeigt, von einer Idee Abschied zu nehmen. Schon während ihrer Arbeit an ihrem letzten Roman, „Franziska Linkerhand“, erkennt sie, daß ihr der Mut fehlen wird, die „Existenz aufs Spiel zu setzen“. „Franziska Linkerhand“ ist nicht so radikal geworden, wie sie es sich in ihren Tagebüchern gewünscht hat: „Ich möchte ein böses Buch schreiben, ein trauriges Buch; und alles soll schlimm ausgehen. Aber wem dient das?“ So wurde erst aus den Tagebüchern Literatur, die sich aller Funktionalisierung entzieht und einen bösartigen Blick auf die DDR bietet, für den es sich lohnt, einen sonnigen Vormittag zu verpassen. Susanne Messner
Brigitte Reimann: „Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964 bis 1970“. Aufbau Verlag, Leipzig 1998, 39,90 DM
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