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■ Nachschlag„O-Ton-e-Ton“: Das Podewil wurde für einen Abend zum Haus Europa

Das europäische Haus, Sinnbild eines friedlichen Miteinander, war einst eine Erfindung von Gorbatschow. Ins Detail – für wen die Abstellkammer vorgesehen wäre und wer in den Polstersesseln im Wohnzimmer zu sitzen käme – ging man damals vorsichtshalber lieber nicht. Im Podewil, das am Samstag zum „Haus Europa“ wurde, erhielten alle Beteiligten Aufenthaltsrecht in allen Zimmern. Es gab eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Musikzimmer, einen großen Saal, Hofkonzerte und sogar ein Studierzimmer, in dem man kleine Sprachkurse absolvieren konnte. Finnisch, Kroatisch oder Polnisch in 30 Minuten, so wächst zusammen und so weiter.

„Klänge und Sprachen“ lautete das Genuß und intellektuelle Anstrengung verbindende Oberthema der rund 80 KünstlerInnen aus 25 Ländern. Es sollen ja schließlich nicht nur Crêpes gebacken und Pizza gegessen werden, wenn es um Europa geht. Das dachte sich wohl auch die deutsche Performancekünstlerin Christine Kriegerowski. Sie modellierte in der Küche eine ganze Landschaft aus in Eimern angerührtem Kartoffelbreipulver, setzte Bäumchen aus Brokkoli und Karottenspitzen und baute kleine Autos aus Fischstäbchen mit Rädern aus Radieschenscheiben und plazierte einen blauen Götterspeisesee im Püree.

Den alltäglichen Kommunikationssalat richteten Rupert Huber und Julia Zdarsky als computergestützte Ton- und Diashow an. Das schöne Wort „Systemwatschn“ erschien dort an der Wand, verschlungene Textpartikel, die aussahen wie Fingerabdrücke, und über allem die ewig ruhende Aussage: „Nur wegn Ihnen wer ma da ka Ausnahme machen.“ Radikaler und kurzweiliger als diese technoide Spielerei war jedoch ein szenischer Vortrag von „Die der art guten Freunde“, eine tragische Auseinandersetzung mit Schrift, Sprache und Musik. Auf der Bühne stand der Schauspieler Joey Zimmermann hinter einem Katheder und las sehr ernsthaft Abschnitte aus Aristoteles' Poetik, so gesampelt, daß man nie genau wußte, ob es sich um Tiefsinn oder Unsinn handelte. Auf der anderen Seite der Bühne ruhte eine beleuchtete Lautsprecherbox, dazwischen eine Diaprojektionsfläche. Was nun einsetzte, war ein großartiges Schattenboxen zwischen Lichtbildschrift und Sprachebene, unterbrochen und akzentuiert von experimenteller Musik aus der Box. Hochdramatisch geriet die Verwandlung eines klassischen Textes über ein Wagenrennen in Delphi in eine moderne Radioübertragung. Und am Ende verwandelte sich ein wohlgesetzter Vortrag durch zunächst unmerkliche Lautverschiebungen in ein Lautgedicht aus nichts als D und O.

Im Musikzimmer sangen derweil zwei blitzblonde Isländerinnen Folkloristisches, im Salon las die Rumänin Carmen-Francesca Banciu aus ihrem Roman „Vaterflucht“ – aber Lesungen kann man sich nach Phrasendrescher-Experimenten beim besten Willen nicht mehr anhören. Jeder Satz erscheint dann auf einer inneren Diaprojektion und zerfällt im Licht. Dann lieber nach draußen, wo die sehr britischen „Tiger Lillies“ ein Liebeslied auf ein Schaf zum besten gaben. Im Hof ist es an lauen Sommerabenden sowieso viel schöner als drinnen im Haus Europa. Jörg Magenau

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