Nachfolge Oberhaupt der Tibeter: Der Sohn des Dalai Lama
In dem 27-jährigen Ugyen Thinley Dorjee hat der Dalai Lama einen möglichen geistig-religiösen Nachfolger gefunden. Er ist der populärste Lama nach seinem Ziehvater.
DELHI taz | Denkt ein Tibeter an einen Nachfolger für den Dalai Lama, kommt ihm gewöhnlich kein Harvard-Professor oder Bürokrat der Exilregierung in den Sinn. Auch wenn sich der Dalai Lama das heute selbst so wünscht (siehe oben). Er denkt vielmehr an die komplizierten Rituale, mit der die obersten buddhistischen Sektenführer über die Jahrhunderte hinweg den jeweiligen Nachfolger bestimmten.
Dabei wissen die meisten Tibeter aber auch, dass sich diese Rituale nur im von China kontrollierten Tibet durchführen lassen, denn sie sind an die Geografie gebunden. Und dass die Chinesen das alles nicht mehr zulassen. Umso zentraler ist deshalb heute die Rolle des Karmapa für die tibetischen Buddhisten.
Ugyen Thinley Dorjee, der 17. Karmapa und dritthöchste religiöse Führer Tibets, ist erst 27 Jahre alt. Er ist der letzte hohe Lama, der in China noch auf so traditionelle Art und Weise bestimmt wurde, dass ihn außer Peking auch der Dalai Lama und die Exilregierung anerkannten. Er wurde zudem weltberühmt, als er im Teenageralter - angeblich unter großen Gefahren - von China nach Indien zum Sitz der Exilregierung floh.
Zwar glaubten indische Geheimdienstleute der Fluchtgeschichte nicht, und viele Sicherheitsexperten in Delhi halten ihn noch heute für einen chinesischen Spion. Doch der Dalai Lama entschied anders. Er nahm den Karmapa an seine Seite und ließ ihm die besten tibetischen Lehrer zukommen. Eine Art Vater-Sohn-Beziehung.
In Wirklichkeit bedeutet das, dass der Dalai Lama den Karmapa zu seinem geistig-religiösen Nachfolger auserwählt hat. Das ist zwar im engen lama-buddhistischen Sinne unmöglich, weil der Karmapa einer anderen Sekte angehört als der Dalai Lama. Aber in der Öffentlichkeit spielt das kaum eine Rolle. Schon ist der Karmapa der bei weitem populärste Lama hinter seinem geistigen Ziehvater. Bereits zweimal in der Woche gibt er in Dharamsala öffentliche Empfänge.
Kürzlich aber gab es Ärger in der Universitätswohnung des Karmapa in Dharamsala. Polizeiinspektoren drangen in die Mönchsgemächer ein und beschlagnahmten sämtliche Spendenquittungen der letzten Jahre. Seine Sekte hatte ohne die in Indien erforderliche Ministerialgenehmigung ausländische Spendengelder in Empfang genommen, darunter auch eine hohe Summe in chinesischer Währung.
Das ärgerte sogar den Dalai Lama, der anschließend von "finanziellen Unregelmäßigkeiten" sprach, die genau untersucht werden müssten. Vor allem aber hatte die nicht immer nur tibetfreundliche indische Presse ein neues Fressen gefunden: Unter dem Titel "Versteckter Drache" fand sich der Karmapa nun auf der Titelseite des führenden Wochenmagazins India Today wieder. Plötzlich war er da wieder ein chinesischer Spion.
Deutlich wurde dabei, wer alles bei der Nachfolge des Dalai Lama noch mitreden will. "Der Dalai Lama ist Indiens größter Trumpf gegenüber China", befand Brahma Chellaney, Professor für Strategische Studien am Zentrum für Politikforschung in Delhi. Deshalb müsse Indien einen Plan haben, die Nachfolge des Dalai Lamas positiv zu beeinflussen, statt bei der Affäre um den Karmapa nur zuzuschauen, argumentierte Chellaney.
Wohlmöglich werde der Dalai Lama "zwei sich ergänzende Strukturen" hinterlassen, schrieb im vergangenen Oktober der Tibet-Experte Omair Ahmad in einem Beitrag für die Zeitschrift der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die religiöse Macht werde dann bei den Mönchen konzentriert und die politische Macht bei einer weltlichen, demokratisch gewählten Regierung. Genau darin aber liegt die große Gefahr für die Tibeter: Denn viele Nachfolger sind kein Nachfolger. Auf den Karmapa kommt es in Zukunft an. Überlebt er seine Spendenaffäre, hätte er schon sein erste große politische Bewährungsprobe bestanden.
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