■ Nachdenken über den deutschen Widerstand: Ihr gewaltsamer Tod machte sie gleich – auch in der Distanz zur Mehrheit
Im Sommer 1946 besuchte der britische Journalist Sefton Delmer Berlin. In der Charité, genauer im säuerlich riechenden Halbdunkel des Kellers, stieß er – geführt von einem alten sozialdemokratischen Pförtner – auf zwei abgedeckte Bottiche. Sie standen vor einer „weißgetünchten Wand“. „Der Wärter hob nacheinander die beiden Deckel ab“, berichtete Delmer hernach, „um mir zu zeigen, was darin war. Ich starrte entsetzt auf eine Sammlung von Menschenköpfen, die auftauchten und wieder untergingen, wenn der Wärter sie umrührte, wie Äpfel in einem Wassereimer.“
Die Köpfe stammten von Menschen, die in den letzten Monaten des Dritten Reiches in Plötzensee enthauptet worden waren – zumeist Deutsche, auch Polen, Norweger oder Franzosen. Weil damals mehr Köpfe angefallen waren, als im Lehrbetrieb der ruhmreichen Charité verwertet werden konnten, hatten Sektionsgehilfen „das Material“ in Salzlauge eingelegt. Noch im Juli 1946 schafften sie es, je nach Bedarf, in den Präpariersaal der Anatomie.
Manche der Enthaupteten hatten ihr Leben als Konservative gelassen, manche als überzeugte Pazifisten oder Demokraten; andere waren ihren letzten Weg zum Fallbeil wegen eines Witzes oder verzweifelten Wortes gegangen; wieder andere als gläubige Kommunisten gestorben oder deshalb, weil sie den Geboten Gottes, nicht den Gesetzen und Befehlen der Menschen gehorcht hatten.
Doch so verschieden die Rolle einzelner Widerständler, so vielfältig ihre Motive zum Widerstand gegen Volk und Führer gewesen sein mochten, der gewaltsame Tod hatte die Hingerichteten gleich gemacht – gleich auch in ihrer Distanz zu den überlebenden Mehrheitsdeutschen.
In deren Augen blieben sie – noch auf Jahre, manchmal Jahrzehnte hinaus – Saboteure, Eidbrecher und Kameradenschweine, bestenfalls Unpersonen. Es bedurfte der Kapitulation und der Besatzung, des Generationswechsels und unendlicher Umwege, bis die Deutschen sich langsam dem 20. Juli und den einzelnen Männern und Frauen annäherten, die sich zum Widerstand entschlossen hatten.
Widerstandsmythen haben es in sich. Sie bleiben fragil – sei es in Deutschland oder Frankreich, in Polen oder Italien. Leicht werden sie zur Projektionsfläche von Beschönigungen, verdecken das Versagen der übergroßen Mehrheit, werden zu politischen Instrumenten der Gegenwart. Die deutsche Rezeption mußte sich zudem in den Fallstricken der Teilung verfangen.
Noch 1963 hielt jeder vierte Bundesbürger, so Infas, die Verschwörer des 20. Juli und andere Widerstandskämpfer für schlichte Vaterlandsverräter. In der DDR bediente die amtliche Geschichtsdoktrin dasselbe Ressentiment: Die Schlagwörter von der „Generalskaste“ oder der „reaktionär- antisowjetischen Beck-Goerdeler- Politik“ füllten dort die Erinnerung des stets umworbenen, mittlerweile chronifizierten Mitläufers.
Jahrzehntelang übten sich die deutschen Politiker darin, die wenigen, die gegen das Böse aufbegehrt hatten, zu selektieren. Nicht die existentielle Entscheidung des einzelnen, der sein Leben gegen den breiten Strom der Mehrheit geworfen hatte, stand im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der gegensätzliche, legitimatorische Hausbedarf beider Nachfolgestaaten des Dritten Reiches.
Das änderte sich erst in den achtziger Jahren, im Zeichen von Konvergenz, Wandel und Annäherung. Honecker entdeckte den „bürgerlichen Antifaschismus“, Weizsäcker würdigte den „Beitrag der Kommunisten“ im Kampf gegen die menschenverachtende Diktatur. Das neuerliche Gekeife von Volker Rühe und anderen sagt nichts über den kommunistischen Widerstand, aber viel über den desolaten, noch im Kalten Krieg verfangenen Geisteszustand mancher Konservativer.
Dem sollte, schon weil es so einfach ist, nicht mit gleicher Münze heimgezahlt werden. Angemessen sind selbstkritische Erwägungen, die je nach politischem Milieu verschieden ausfallen müssen. Hier – in der taz – ließe sich beispielsweise fragen: Was bedeutete es, daß unter den wenigen vergleichsweise viele Adlige, Offiziere aus elitären Traditionsregimentern zum Widerstand fanden? War es nicht doch ihre sorgfältige, konservative Erziehung, die die Diktatur nicht hatte brechen können, ihr vormoderner Ehrenkodex, der ihnen die Umkehr ermöglichte?
Im Jahr 1944 hatten die Deutschen draußen im Lande nichts von alldem begriffen. Ganz im Kammerton, den ein Roland Freisler vorgab, dröhnten sie zurück, voll und konsonant: „Die Volksgenossen können sich immer noch nicht damit abfinden“, meldete der SD am 28. Juli 1944, „daß der Anschlag auf den Führer überhaupt möglich war“. An die Ernennung Himmlers zum Befehlshaber des Heimatheeres knüpften sie „die Hoffnung, daß nun ein ,grundsätzliches Reinemachen‘ in allen Stellen erfolge, in die sich irgendwie reaktionäre (!) Elemente eingeschlichen hätten“.
So realitätsnah die Demoskopen des Himmlerschen Sicherheitsdiensts auch arbeiteten, hatten sie doch nur die halbe Wahrheit berichtet: Die Diktatur basierte nicht auf dem Übereifer hunderfünfzigprozentiger Nazis, sondern auf den höchst unterschiedlichen und widersprüchlichen Affinitäten aller Schichten der deutschen Bevölkerung. Nur deshalb, weil Hitler auf der Grundlage ständiger Expansion alle und eben nicht ein abstraktes ideologisches Ungetüm bediente und band, gelang es ihm, jenes Maß an Übereinstimmung zwischen Volk und Führung zu erzeugen, das bis heute ohne Beispiel ist.
Dennoch blieben die Affinitäten zum Nazismus weithin pluralistische, eher locker einander überlagernde Teilaffinitäten, gebündelt in der Utopie einer gewaltigen, in jeder Weise erneuerten nationalen Zukunft. Individueller Verzicht und kollektive Verbrechen, die jeder kannte oder doch ahnte, wurden so zur „Notwendigkeit“ im Sinne des Volkswohls, zu damals so genannten „Spesen großer Zeiten“: Da befand der (ehemals) kommunistisch wählende Arbeiter die „Euthanasie“ als „vernünftig“ und maulte über die schlechte Butterversorgung; da verdammte ein katholischer Bischof dasselbe Mordprogramm mit fundamentalistischem Mut und segnete am folgenden Sonntag den Kreuzzug gegen den „teuflischen Bolschewismus“; da spielten Offiziere mit besessener Professionalität einen imperialistischen Aufmarschplan nach dem anderen durch, kombinierten ihren Standesdünkel mit der Lehre vom Untermenschentum und stießen sich gerade deshalb am plebejisch- brutalen Zug des Nazismus... Eben deshalb hat ein x-beliebiger Rechtsradikaler von heute – geschichtlich gesehen – mit Heinrich Himmler nicht mehr oder weniger zu tun als Helmut Kohl, ich oder Sie, liebe LeserInnen.
Auch die Biographien fast aller Verschwörer, die mit dem 20. Juli ein Fanal setzten, stehen in dieser Spannung. Und so gut die Ereignisse und ihre Repräsentanten durchforscht, in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit dargestellt sind, so werden sich mit Sicherheit noch private Briefe und amtliche Dokumente finden, die einzelne belasten. Das gilt selbst noch für das Wirken mancher in der Nachkriegszeit: Fabian von Schlabrendorf, Verschwörer des 20. Juli, bescheinigte später dem Leipziger „Euthanasie“-Mörder Werner Catel mit geradezu identifikatorischer Hingabe „humane“ Motive; Rudolf Goguel – Kommunist, Historiker und Komponist des Moorsoldatenliedes – erlebte „den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn“ 1953, gelegentlich seiner Verpflichtung zum IM „Rudi“.
Na, und! Über all das läßt sich heute unter Erwachsenen reden, aber nicht – ex post – rechten. Die Widerstandskämpfer lebten und starben als Kinder ihrer Epoche. Nur aus diesem Blickwinkel kann ihnen historische Gerechtigkeit widerfahren. Mehr noch: Weil sie so sehr im Denken und Handeln ihrer Zeit befangen blieben, gewannen ihre Taten Größe und provozieren bis heute Abwehr. Sie zeigten, was dem einzelnen trotz aller epochalen Verblendungen möglich war, wie wenige Menschen den Weg gingen, der nichts Exotisches hatte, sondern jedem offenstand.
Es ist schlicht unangemessen, wenn die Verschwörer von damals heute zum Zweck aktueller Sinnstiftung verhackstückt werden, wenn sich die Rechthaber verschiedener Couleur über die Mutigen von damals hermachen, um sie in gute und böse zu sortieren. Die Betreiber neuer gesinnungsethischer Guillotinen greifen auf deutsche Traditionen zurück, die so alt sind wie der 20. Juli selbst. Sie zerlegen, instrumentalisieren und entwerten die Toten: „Niemand in der Charité“, so Sefton Delmer 1946, „hatte Anstoß daran genommen, daß die Studenten und ihre Professoren weiterhin eine so typisch nationalsozialistische ,Verwertung des Wertlosen‘ mit den Überresten der Menschen vornahm, die man eigentlich als Helden und Märtyrer hätte ansehen müssen.“ Götz Aly
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