■ Nach der hessischen Wahl - Antje Vollmer zur Sendestörung zwischen Parteien und Wählern: Demokratie ohne Bürger
Nervosität herrscht in allen Parteien. Die Wahlergebnisse fallen wie Gottesurteile. Unberechenbar sind sie geworden und damit auch schwer ausdeutbar. Sogar die professionellen Interpreten von Volkes Stimme geraten ins Schwimmen. Vor der Hessenwahl hatten sie die SPD klar vor der CDU geortet, nach Tisch las sich das alles ganz anders, wurde damit aber nicht einfacher zu verstehen. So konnte man als Erklärung der SPD-Verluste sowohl hören, sie habe zuviel mit der Regierung gekungelt, wie das Gegenteil davon, sie habe es an konstruktiver Zusammenarbeit fehlen lassen. Entsprechend konträr fallen denn auch die Ratschläge aus, die die Leitartikler den geschockten Parteistrategen anbieten. Sollen sie nun eine klare Oppositionspolitik machen, oder doch besser gleich in die große Koalition einsteigen? Sollen sie mit Engholm ins Rennen gehen, der auf allen Titelseiten kopfwiegt, oder gleich mit Schröder, der sich schon auf den dritten Seiten lümmelt? Und kommt es darauf überhaupt noch an?
Der Wähler ist ein unbekanntes Wesen geworden. Zu seinem größten Anteil gibt er sich überhaupt nicht mehr wahlförmig zu erkennen, ein weiterer, ebenfalls beachtlicher Teil wählt wechselhaft, wieder ein anderer Teil wählt aus Protest, ein besorgniserregender Teil wählt rechtsextrem, die verwöhnten Schicki-Micki-Wähler – so die FAZ – wählen grün/alternativ, und zunehmend weniger Wähler sind, wie die Auguren sie am liebsten hätten: treu zu einem Volksparteien-Stamm gehörig. Was aber ist es nun, was dieser Wechselbalg der Nation mitteilen will?
Der Wähler könnte ausdrücken, daß er die Faxen in Bonn satt hat. Er könnte signalisieren, daß ihm allmählich angst und bange wird, weil er nicht weiß, wohin sich diese neue, unbekannte Republik entwickelt. Er könnte meinen, daß die großen Parteien seine Probleme entweder nicht kennen oder nicht zu entscheidungsreifen Alternativen verdichten. Er könnte sich als von den einfachen Wahrheiten verführt präsentieren oder auch als Mensch von jener egoistischen Sorte, die sich schlicht nicht für die Belange des Gemeinwesens interessiert. Man könnte aber auch vermuten – schließlich handelte es sich in Hessen trotz allem nur um eine Kommunalwahl –, daß das Personenangebot vor Ort nicht mehr gefiel, oder daß die ewig gleichen Gesichter in Bonn den Wähler zu diesem merkwürdig unverständlichen Wahlverhalten motiviert hätten, just for fun, mal sehen, was passiert.
Es ist nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Gesellschaft gestört, was sich zur modischen Politikverdrossenheit gesteigert hat, es ist das Verständnis überhaupt gestört. Man weiß nicht mehr, was der andere eigentlich sagen will. Die Politik versteht den Wählerwillen nicht mehr, der Wähler begreift nicht, was die Politik überhaupt will, für ihn und von ihm. Sendestörung auf der ganzen Linie. In dieser Situation ist es ratsam, ernsthaft darüber nachzudenken, ob die Instrumente der Verständigung zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung noch stimmen. Wenn nicht, muß ein neues System des gegenseitigen Verstehens und Begreifens gesucht werden. Und genau das steht an. Das bisherige Verständnis war geprägt durch Tradition, Herkommen, Milieu, Gewohnheit, gemeinsame Sprache, gemeinsame Interessen und in der Regel ein gemeinsames Abgrenzungsbedürfnis gegen ein bestimmtes Anderes, etwas außerhalb der eigenen Gruppen- oder Parteizugehörigkeit. All diese Weisen gegenseitigen Begreifens waren selbstverständlich vorhanden, die wenigsten waren verbal vermittelt. Nichts davon ist heute noch zweifelsfrei gegeben, weder bei der CDU noch bei der SPD, schon gar nicht bei der FDP oder den Grünen.
Die klassische Volkspartei war vor allem eine „Familie“. Wie diese hatte sie ihren eigenen Verständigungscode. In den modernen Zeiten ist sie nun genauso unter die Räder gekommen wie die andere Familie auch, es gibt sie nur noch als Ausnahme von der Regel. Daß die SPD, die älteste der Parteien, am meisten von diesem Familiencharakter besaß, ist dabei ebensowenig verwunderlich wie die Tatsache, daß sie ihre Krisen allesamt inszeniert wie in einem untergehenden Lübecker Patrizierhaus – Buddenbrooks Erben.
Heute vermittelt sich alles, was zwischen der Politik und den Bürgern eines Staates passiert, auf dem freien Markt, vorzugsweise auf dem Medienmarkt, also sozusagen bindungsfrei. Deswegen ist auch soviel hohle Fassade, soviel Schminke, soviel Gedröhne dabei. Wohlfeile Moralisiererei ist auch überreichlich im Angebot. Mobilisiert werden allerdings immer noch die alten Gefühle: Liebe, Haß, Leidenschaften, Überdruß. Sie äußern sich aber, begründet in der genannten Bindungslosigkeit, destruktiv, sie zehren die Substanz der politischen Kommunikation auf. Wobei die populistischen Bewegungen, diejenigen der Outlaws, die im klassischen Familienverband der Volksparteien sowieso keinen Platz hatten, das ihre dazu beitragen, eine geschwächte Kultur ganz zu ruinieren.
Die Politik muß sich also etwas einfallen lassen, will sie es nicht in kürzester Zeit zu „italienischen Verhältnissen“ kommen lassen, und will sie nicht hilflos weiter im Nebel stochern, was der Wähler denn wohl wollen mögen könnte. Es muß ein Angebot von seiten des klassischen Parteiensystems kommen, das ernsthafte Korrektur des Bestehenden und überzeugende Erneuerung zugleich ankündigt. Es muß ein neues Agreement zwischen der politischen Klasse und ihren mündig gewordenen Wählern zulassen, das nicht mehr auf der Basis des klassischen „Traditionsvereins“, sondern nunmehr auf der Grundlage neu gewachsenen Vertrauens zu knüpfen wäre. Wie könnte so ein Angebot aussehen?
Als ersten Schritt sollten sich die Volksparteien umgehend einigen, von allen „feudalen“ Sonderrechten Abstand zu nehmen, als da wären: geborene Mitgliedschaften in Fernseh- und Rundfunkräten, Sparkassen und Stadtwerken. Der Zugriff auf Schuldirektorenposten kommt ebenso aus vordemokratischen Zeiten, wie die Einflußnahme auf Kulturinstitute und Gerichte. Auch für das leidige Diätenthema bietet sich eine schnelle und überzeugende Lösung an: die Koppelung an den Mittelwert zwischen den Erhöhungen der allgemeinen Renten und der Gehälter des Bundesverfassungsgerichts. Soviel zum Thema alte Hüte.
Schwieriger ist es, vertrauenschaffend zu dokumentieren, daß das Volk wirklich Perestroika, Erneuerung, von der politischen Ebene erwarten kann. Hier gibt es keine Alternative zu institutionellen Regelungen, wie sie etwa die amerikanische Verfassung bietet, die dem regelmäßigen Wechsel von Köpfen und Ideen – jedenfalls an der Staatsspitze – konstitutionellen Rang eingeräumt hat. Zehn Jahre für einen Bundeskanzler, das wäre genug, wie es ja auch für einen Bundespräsidenten eine gute Spanne Zeit ist. Desgleichen für Ministerpräsidenten, Bürgermeister, Parteiführer, Amigos und Sonnenkönige. Diesen Vorschlag Kurt Biedenkopfs ernstzunehmen, heißt nicht, die lebensfremden und deswegen gescheiterten grünen Rotationsregeln neu zu beleben. Es ist dennoch klug, Lehren aus den Schwierigkeiten einer langen Zeit politischer Stagnation zu ziehen. Ein System der Dauerherrschaft in Partei und Staat macht jeden Wechsel politisch und menschlich extrem aufwendig. So waren die Machtwechsel 1966, 1974 und 1982 alle geprägt von Intrigen, Verrat, langandauernden Zerwürfnissen. Abschied vom Familien- und Feudalsystem in der Politik, das heißt auch, Abschied von den Erbhöfen, Zivilisierung der Kultur des Wechsels.
Letztlich entscheidend für die Überlebenstauglichkeit der Volksparteien aber wird sein, ob sie sich noch einmal zutrauen, das wachsende Potential der Nichtwähler für die demokratischen Prozesse zurückzugewinnen. Der Nichtwähler, nicht der Rechtswähler, ist das wahre Rätsel der letzten Wahlen. Er fühlte sich offenbar durch die Bonner Politik der letzten Jahre im Stich gelassen, gelangweilt, nicht ernst genommen.
Wie sieht er wohl aus, der Mensch, der sich der Politik als Nichtwähler entzogen hat? Ist es „der kleine Mann“, dem jetzt wieder Lorbeerkränze gewunden werden? Nein, entfernt aus dem demokratischen Diskurs hat sich der Bürger, die Bürgerin – hier nicht verstanden im Sinne des marxistischen Feindbilds, sondern im Sinne der französischen und amerikanischen Revolution –, als Inbegriff einer emanzipativen Kultur des Abbaus von Herrschaft und Patronage. Der deutschen Parteiendemokratie gehen die Bürger verloren, das ist das Bedrohliche. Warum haben sie sich abgemeldet? Weil sie nicht gebraucht werden. In der Schweiz dürfen sie regelmäßig mitentscheiden, in Dänemark, Frankreich, Österreich gelegentlich sogar über die Zukunft Europas abstimmen, in den USA dürfen sie Präsidenten küren – und bei uns? Hier steht ihnen nicht einmal die Wahl eines machtlosen Bundespräsidenten zu.
Eine bürgerliche Demokratie ohne eine Ausweitung der Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten, das ist auf Dauer eine taube Nuß. Dabei ruft alles nach einem Angebot des Parteienstaates: Legitimationsgewinn durch Machtverzicht. Antje Vollmer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen