: Nach der Schule ist vor der Schule
Wegen Lehrstellenmangels wird die ‚Vollzeitschulische Ausbildung‘ an NRW-Berufskollegs beliebter, mit Nachteilen: Neben fehlendem Lohn besitzt der Abschluss keine Kammerprüfung. Trotzdem drängen mehr Schüler aus den Schulen in die Schulen
VON SALVIO INCORVAIA
Die Schulabsolventen in NRW bleiben an den Schulen, um die Zeit ohne Lehrstelle zu überbrücken. Immer beliebter werden die Berufskollegs. Sie bieten Schulabschlüsse, oft auch eine vollzeitschulische Ausbildung.
„Viele können bei uns sieben bis zehn Jahre mit Weiterbildungen, Schulabschlüssen oder vollzeitschulischen Ausbildungen verbringen, wenn sie das wollen“, sagt Dieter Urbanski, Verbandssprecher der Lehrer an den Berufskollegs in NRW (VLBS). Schon seit zehn Jahren beobachtet der Verband einen großen Andrang von Schulabsolventen, die eine Berufsausbildung oder einen weiteren Schulabschluss an den Berufskollegs absolvieren wollen.
Während die rot-grüne Landesregierung, Gewerkschaften, Verbände und Unternehmen den Lehrstellenmangel mit Initiativen beheben wollen und die Bundesregierung erneut über die Ausbildungsabgabe nachdenkt, parken immer mehr Jugendliche ohne Ausbildung ihre Leerlaufzeit im Berufskolleg. Mehr als 37.000 Menschen haben im vergangenen Jahr ein Berufskolleg in NRW besucht, um dort ihre ‚vollzeitschulische Berufsausbildung‘ zu absolvieren. Das sind 14.000 mehr als 1998. Dagegen sind in den vergangenen zehn Jahren die betrieblichen Lehrstellen landesweit um über 20.000 Plätze geschrumpft. Bildungs- und schulische Berufsabschlüsse bei Schulabsolventen ohne Lehrstelle stehen deshalb jetzt hoch im Kurs.
„Wir können natürlich nicht garantieren, ob nicht hier und da in Berufsbereichen ein Überschuss an Fachkräften durch die Berufskollegs im Land ausgebildet wird“, sagt Nina Schmidt vom NRW-Schulministerium. Trotzdem seien diese Ausbildungen nach Landesrecht zur Zeit wieder beliebter geworden. Nach Ansicht des Ministerium muss dies aber kein zwangsläufig Trend sein.
Doch die Zahl der Angebote wächst: Mittlerweile bieten rund 360 Berufskollegs in NRW die vollzeitschulische Berufsausbildung an. Dabei können die Schüler zwischen mehr als 20 Abschlüssen wählen: Dazu zählen traditionelle Lehren wie kaufmännischer Assistenz oder Fremdsprachen-Korrespondent sowie neuere Ausbildungsgänge als ‚Assistent für Umwelttechnik‘ oder Informatiker. Die Ausbildung an den Berufskollegs beträgt drei Jahre und führt zu einem Berufsabschluss mit dem Zusatz ‚staatlich geprüft‘.
Der Grund für diesen Zusatz sind die fehlenden Kammerprüfungen: Das Land muss die Abschlussprüfungen selber durchführen. Die Landwirtschafts-, Handwerks- oder die Industrie- und Handelskammer bleiben außen vor, weil die Lehrgänge nicht im bundesweiten Berufsbildungsgesetz verankert sind. Ein Nachteil: „Wer eine betriebliche Ausbildung mit einer Kammerprüfung abgeschlossen hat, hat nun Mal größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Regina Kerwien von der Bundesagentur für Arbeit. Zudem sei die Möglichkeit einer Übernahme nach der Ausbildung vorhanden. Dies sei bei der vollschulischen Ausbildung nicht so.
Doch einige Mängel der vollzeitschulischen Ausbildung sollen durch die geplante Reform des Berufsbildungsgesetzes der Bundesregierung behoben werden: Die Schul-Azubis können dann ihre Abschlussprüfung vor den Kammern ablegen.
Bereits in der vergangenen Woche hatte der Bundestag in erster Lesung den neuen Entwurf für das Berufsbildungsgesetz beraten. Das derzeit geltende Berufsbildungsgesetz (BBiG) aus dem Jahr 1969 war noch von der damaligen Großen Koalition (CDU/CSU und SPD) eingebracht worden, um bundesweit die Ausbildungen auf einheitliche Grundlagen zu stellen. In dem neuen Gesetzentwurf ist eine internationale Öffnung des Systems durch Auslandspraktika vorgesehen. Zudem sind verbesserte Anrechnungen von Vorqualifikationen, eine Modernisierung und Flexibilisierung des Prüfungsrechts geplant.
Für eine unglückliche Entwicklung halten die Arbeitgeber in NRW den erhöhten Zustrom zu den vollzeitschulischen Ausbildungen: „Hier fehlt der berufliche Alltag. Die optimale Verzahnung von Theorie und Praxis wird von den Schulen nicht vermittelt“, sagt Gudrun Ramthun, Geschäftsführerin der Landesvereinigung der Arbeitgeberverbände NRW. Das Duale Ausbildungssystem habe sich bisher am besten bewährt.
Auch den Berufskollegs in NRW bereitet der stark anwachsende Schülerandrang Probleme, vor allem organisatorisch: Viele Bewerber müssen wegen nicht ausreichenden Kapazitäten abgelehnt und an andere Schulen verwiesen werden. Entgegen dem sprunghaften Ansturm sind Lehrereinstellungen und die Ausgaben für die Berufkollegs relativ gering angestiegen.
Doch der Trend zur schulischen Berufsausbildung kann sich in den nächsten Jahren fortsetzen: Trotz fehlender Kammerprüfungen, ausbleibendem Azubi-Gehalts und zu wenig Betriebspraxis locken die Berufskollegs auch mit zusätzlichen Schulabschlüssen.