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Archiv-Artikel

Nach der Nacht

So jung kommen sie nicht mehr zusammen: Tocotronic bestritten leicht schwankend und angemessen somnambul das diesjährige Neujahrskonzert in der ausverkauften Volksbühne. Am Ende des Sets waren die Tocos fast wieder wie 1995

VON RENÉ HAMANN

Es war ein außergewöhnlich milder Neujahrstag in Berlin. Die Nacht zuvor war entsprechend lang ausgefallen, schon die Böllerei um Mitternacht fiel milder, dafür ausdauernder aus – den Leuten auf Dächern und Straßen wurde einfach nicht so schnell kalt. Am Abend tummelten sich viele Wagemutige vor der Volksbühne, die nach letzten Tickets Ausschau hielten, weil sie dem tristen Fernsehfilm bzw. den klassischen Kantaten in der Kirche nebenan ein Rockkonzert vorzogen. Das Wetter jedenfalls konnte sie nicht vertreiben.

Drinnen war es zunächst merkwürdig aufgeräumt, nahezu bürokratisch: Die Karten gab es an der Kasse, nur um an der ersten Schleuse gegen Bändchen ausgetauscht zu werden. Sie waren rot und grün – warum auch immer. Im Foyer gab es keine Probleme, weder beim Bierausschank noch bei der umsichtigen Garderobe („Sehen Sie zu, dass sie nach dem Konzert schnell hier wegkommen – im Roten Salon zur Aftershowparty wird es sehr voll“). Was vielleicht daran lag, dass bereits alle drinnen im Saal hockten und die Plätze besetzten. Schließlich ging auch schon die Bimmel.

Erinnerungen wurden wach: Das war ja wie damals in der Germanistik-Vorlesung! Junge Menschen drückten sich an die Wand und saßen in den Gängen, weil halt schon alles hoffnungslos überfüllt war. Menschen müssten Legosteine sein. Im Licht sahen alle übermüdet und wie gerade aufgestanden aus (es war ja auch eine lange Nacht in Bad Kleinen). Gut, dass es bald dunkel wurde und die erste Elegie der Band aus Hamburg begann: Tocotronic, seit jüngstem zu viert, eröffneten ihr Set mit einem getragenen Stück, das perfekt zum eigenen Kreislauf passte – immer leicht schwankend und angemessen somnambul, dabei stets eine Spur verstimmt, was sich das gesamte Konzert über nicht wirklich ändern sollte. Auch der Mischer schloss sich der Stimmung an und suchte lange nach Ausgleich: Mehr von Dirk von Lowtzows rauchiger Stimme? Oder doch mehr von den Schrammeltapeten? Tatsächlich hatten auch die Tocos gefeiert, wie sie später zugaben und was an Lowtzows unfreiwilligem Reibeisen feststellbar wurde, besonders bei älteren, harmonischeren Gesangspassagen, die er nur mühsam nachkrächzen konnte. Bei den neuen Stücken konnte die Ruppigkeit ja als Absicht durchgehen.

Man streckte also die Knochen, lehnte sich zurück und genoss das Rauchverbot. Nach einer Welle neuer Lieblichkeit, die sich durch einige Stücke vom Vorgängeralbum und einigen vom neuen, die denen sehr ähnlich schienen, von der Bühne her ausbreitete, hatte man sich fast schon fest eingelullt, als sich plötzlich von hinten her so etwas wie Widerstand bemerkbar machen wollte. Nur kamen Modekritik („Wie seht ihr denn aus!“) und Berliner Schnauze („Mann, Alter!“) akustisch gerade mal beim Ordnungspersonal an; die Band selbst hatte trotzdem die richtigen Stücke in petto und antwortete mit gestreckter Faust und „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“ (früher wäre es wohl „Du bist ganz schön bedient“ gewesen, dies für die Insider).

Neugitarrist Rick McPhail, der sich tatsächlich vom T-Shirt- Stand über Live-Aushilfe zum festen Bandmitglied hochgetellerwaschen hat, lauschte in seinen Verstärker und gniedelte, Dirk von Lowtzow knickte rhythmisch ein und aus, und Jan Müller schaukelte musikfernsehtauglich Frisur und Bass. Nichts hatte sich getan, alles sah aus wie früher. Haartrachten, Bekleidung, die relative Bewegungslosigkeit auf der Bühne. Arne Zank am Schlagzeug gab die Ein-Mann-Spaßfraktion und wirkte ohnehin am spielfreudigsten. Pure Vernunft darf niemals siegen.

Richtig wach wurden alle erst, als das eigentliche Set rum war. Vielleicht war es in der merkwürdigen Mischung aus Alt und Neu zu disparat gewesen. Die erste Zugabe jedenfalls gaben sie als Tocotronic ca. 1995: laut, schnell, mitgrölbar und zu dritt. Das Publikum nahm die Vorlage dankbar auf und engagierte sich: Die ersten Stehtänzer und Ovationisten kamen hoch. Was sich auch in den Zugaben zwei und drei nicht ändern sollte – trotz neuerer Stücke und Viererbesetzung.

Nach der Nacht kam der Abend, und nach dem Abend ging das Licht wieder an, sanft und weich. Das Publikum trollte sich. Das Echo lenkte ihr Geschick. Die Gesichter zeigten Zufriedenheit und schienen von Neujahrsvisionen (also known as: unerfreuliche Vorsätze) erfreulich untangiert. Ob der Abend noch zur Nacht werden sollte, hing jetzt von unsagbaren Faktoren ab: Konditionen und Ansprüche. Noch wichtig im Roten Salon herumstehen und McPhails DJ-Set bestaunen, oder doch lieber ein Abschlussbier in der 8mm-Bar trinken, sich über die Erfahrungen der letzten Nacht austauschen und dann nach Hause. Wir entschieden uns für Letzteres, morgen ist schließlich auch noch eine Nacht. Worüber man nicht singen kann, darüber muss man schreiben.