■ Nach der Castor-Entscheidung des OVG Lüneburg: Konfrontation und Konsens
Das Szenario hat etwas Reizvolles. In Bonn sitzen Vertreter von Bundesregierung, Atomwirtschaft und SPD-Opposition zusammen, um jenen kleinen Kompromiß über „Kohle und Kernenergie“ vorzubereiten, der einst zum großen gesellschaftlichen Konsens über ein modernisiertes Energiesystem werden sollte. In Gorleben und Umgebung liefern sich zur selben Stunde Anti-Atom-Aktivisten, Umweltschützer und Bündnisgrüne Scharmützel mit der Polizei, während der Stein des Anstoßes irgendwo zwischen Philippsburg und dem Wendland liegenbleibt. Die Gleichzeitigkeit von Konsens und Konfrontation, die das Lüneburger Castor-Urteil heraufbeschwört, klärt immerhin die zuletzt verschwommenen Fronten.
Spätestens seit der Bundestagswahl hat die Stromwirtschaft jedes taktische Interesse an einer Einigung über die künftige Energiepolitik verloren. Deshalb soll der Castor rollen. Eine seit 1986 stabile gesellschaftliche Mehrheit gegen die Atomenergie interessiert sie nicht, solange die Mehrheiten in Bonn stimmen. Wer atomare Besitzstandswahrung zum einzigen Ziel erhebt – nichts anderes meint die Atomwirtschaft, wenn sie den „politisch störungsfreien“ Betrieb ihrer 21 Atommeiler verlangt –, kann sich nicht von Volkes Meinung irritieren lassen. Die Atomkraftgegner aber haben zum x-ten Mal zur Kenntnis nehmen müssen, daß das Kreuzchen auf dem Wahlzettel nicht immer die Haltung zur Atomenergie widerspiegelt. Die einen wissen Volkes Mehrheit hinter sich, die andern die des Parlaments in Bonn.
Die Alternative lautet nicht Ausbau oder Ausstieg aus der Atomenergie. Sie lautet, traurig genug, offene Zukunft oder langfristige Zementierung des Atomstandorts Deutschland. Für letzteres brauchen Stromwirtschaft und Bundesregierung die SPD und das Land Niedersachsen, das ein Wörtchen mitzureden hat, wenn bei der Atommüllentsorgung Pflöcke eingeschlagen werden – oder nicht. Über Zwischen- und Endlagerung muß erst dann entschieden werden, wenn wir wissen, wieviel Strahlenmüll insgesamt anfällt. Das wissen wir, wenn wir wissen, wann das letzte Atomkraftwerk vom Netz geht. Aktuell gibt es keinen Entscheidungsbedarf, schon gar nicht für die Opposition. Wir erleben die SPD in der Schlüsselrolle und Gerhard Schröder als Schließer. Doch es steht mehr auf dem Spiel als die Öffnung eines Zwischenlagers, vermutlich sogar mehr als die Zukunft der Atomenergie in Deutschland. Wenn Schröder und die Sozialdemokraten sich jetzt ohne Not einbinden lassen, dann öffnen sie nicht nur die Tür für die nukleare Zukunft. Sie verriegeln gleichzeitig eine andere: die zu einer rot-grünen Reformperspektive. Gerd Rosenkranz
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