Brennende Häuser, geplünderte Geschäfte, randalierende Jugendliche. Die Explosion der Gewalt in englischen Städten schreckt die Gesellschaft nicht nur in Großbritannien auf. Was hier geschah, entsprach so gar nicht mehr unserem Bild einer Rosamunde-Pilcher-Idylle mit gut gekleideten, disziplinierten Engländern, die klaglos an der Bushaltestelle Schlange stehen und das wunderbar antiquierte Ritual des High Teas mit Scones und Ingwerkonfitüre pflegen.
Nach den Nächten der Zerstörung fragen Politiker, Sozialarbeiter, Journalisten und Soziologen nach den Ursachen. Woher kommt die Gewalt? Wir bekommen darauf sehr unterschiedliche Antworten. Und viele der schnell gemachten Erklärungen sind vermutlich auch nicht völlig falsch. Aber die meisten greifen zu kurz.
Die einen halten einen Mangel an strenger Erziehung, den Verlust christlicher Werte, Computerspiele, das milde Wetter (die erste halbwegs wieder ruhige Nacht in der vergangenen Woche zeichnete sich durch Dauerregen aus) oder Blackberry-Handys für verantwortlich. Die anderen geben den sozialen Verhältnissen, der fehlenden Perspektive und der hohen Arbeitslosigkeit in den Problembezirken englischer Großstädte die Schuld.
England ist durch und durch ein zerrissenes Land
In der Tat ist die englische Gesellschaft (anders übrigens als die schottische) seit Jahrhunderten gespalten. Die Wurzeln dieser Klassengesellschaft gehen, streng historisch betrachtet, weit zurück bis auf Wilhelm, Herzog der Normandie, der 1066 in der Schlacht von Hastings die britischen Inseln eroberte, den im Land verwurzelten angelsächsischen Adel entmachtete und eine kleine französisch sprechende Oberschicht installierte. Die neuen Herrscher haben sich seither nie ganz und gar mit den Einheimischen versöhnt.
Nach der Industrialisierung entstand erneut eine gesellschaftliche Kluft, diesmal zwischen der Arbeiterklasse und den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten Englands. Und im zwanzigsten Jahrhundert kam die Trennung zwischen Einwanderern, viele aus dem weltumspannenden britischen Kolonialreich, und den länger schon auf den Inseln Einheimischen hinzu. Kurzum: England ist ein durch und durch zerrissenes Land, in dem die Lebenschancen schon durch den Akzent sehr weit vorherbestimmt werden.
Perspektivlosigkeit und soziale Ausgrenzung sind ohne Zweifel nicht förderlich für ein friedliches Miteinander. Das Muster, mit dem wir versuchen, den Ausbruch von Zerstörungswut zu verstehen, würde darum lauten: Die Gewalt ist mitten unter uns.
Die soziale Gewaltursache als Erklärung ist unvollständig
Unter den Vernachlässigten, den Ausgegrenzten, den Diskriminierten staut sie sich an wie die Lava unter der Kuppel eines Vulkans. Sie eruptiert irgendwann, wenn der Druck zu groß wird, und ergießt sich in die Siedlungen der friedlich-arrivierten Gesellschaft. Diese Erklärung für die Ausschreitungen zu akzeptieren hätte paradoxerweise etwas Beruhigendes, denn die Naturmetapher täuscht und wäre schnell ins Bessere gewendet.
Diese soziale Gewaltursache wäre in Wirklichkeit kein unabänderliches Naturereignis, sondern könnte von der Politik in Angriff und zum Ziel sozialpolitischer Programme genommen werden. Bessere Schulen, mehr Sozialarbeiter, Förderprogramme und Arbeitsplätze sind für Politiker (noch dazu aus dem gerade regierenden konservativ-liberalen Lager) weder eine einfache noch eine billige Aufgabe. Aber man könnte sie angehen und eine friedfertige Gesellschaft schaffen. Aber leider ist diese Erklärung unvollständig.
An dieser Stelle müssen wir ein wenig ausholen. "Brazzaville Beach", einer der besten Romane des englischen Schriftstellers William Boyd, handelt von der Primatenforscherin Hope Clearwater. Die junge Wissenschaftlerin schließt sich nach einer gescheiterten Ehe einer Forschergruppe an, die Schimpansen im kongolesischen Dschungel beobachtet. Chef des Forschungscamps ist Eugene Malabar, ein weltweit angesehener Professor. Nach seiner allgemein akzeptierten Theorie leben die Schimpansen in friedlichen und friedfertigen Gemeinschaften.
Menschenaffen haben die Gewalt in den Genen
Doch Hope Clearwater macht eine verstörende Entdeckung, als sie einigen der Menschenaffen im Dschungel folgt. Einzelne Tiere quälen dort ihre schwächeren Artgenossen, sie prügeln auf sie ein, brechen ihnen die Glieder und schrecken sogar vor Kannibalismus nicht zurück. Malabars Theorie ist also falsch. Die Schimpansen sind nicht friedfertig. Doch mit Gewalt versucht der ansonsten so freundliche Professor Malabar, seine Assistentin daran zu hindern, diese Wahrheit zu verkünden.
William Boyds Romanhandlung spiegelt den Stand der Wissenschaft. Primatenforscher konnten durch die Beobachtung wild lebender Tiere nachweisen, dass Schimpansen und Bonobos Gruppen von Artgenossen auf brutale Weise überfallen und töten, um sich Vorteile im Kampf um Weibchen und Reviere zu verschaffen.
Menschenaffen haben die Gewalt in den Genen. Gene, die sie zu 99 Prozent mit dem Homo sapiens teilen. Wissenschaftler schätzen, dass seit Beginn der Bronzezeit rund 3,5 Milliarden Menschen in etwa 3500 Kriegen auf der Welt ums Leben gekommen sind. Im Augenblick der Lektüre einer Tageszeitung kämpfen und töten sich Menschen in schätzungsweise 150 Kriegen rund um den Globus.
Das Böse ist die dunkle Seite jeder menschlichen Seele
Und nicht nur im Krieg herrscht Gewalt. Die Kriminalstatistik weist 2010 in Deutschland rund 200.000 Gewaltdelikte aus. Die nie gemeldeten Fälle von verprügelten Ehefrauen, Schlägereien auf dem Schulhof, Gewaltexzessen in Gruppen gar nicht gezählt. Die Gewalt ist also nicht nur mitten unter uns. Sie ist in uns.
Längst haben wir erfahren, dass keineswegs nur verarmte und perspektivlose Jugendliche aus Problemfamilien sich an den Plünderungen in London, Birmingham und Manchester beteiligt haben. Auch scheinbar ganz normale Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht nutzten die für sie offenbar günstige Gelegenheit.
Möglicherweise zogen einige von denen, die in London tagsüber in vorbildlichem bürgerschaftlichen Engagement die zerstörten Straßen aufgeräumt haben, nachts selber randalierend wieder los. Und sind die Mitglieder der Bürgerwehren, die sich auf der nächsten Eskalationsstufe mit Baseballschlägern bewaffnen, weniger gewaltbereit als die Plünderer? Das Böse ist die dunkle Seite jeder menschlichen Seele.
Von harmlosen Studenten zu brutalen Gefängniswärtern
Gewalt braucht keine Ursache, weil die Veranlagung dazu in unserem Gehirn angelegt ist. Sie verlangt höchstens nach einem Anlass, nach einem Funken, der dazu führt, dass die Sicherungsmechanismen des Gehirns im präfrontalen Cortex, dem Zentrum unserer sozialen Selbstkontrolle, zusammenbrechen. Der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo beschreibt in seinem Buch "Der Luzifer-Effekt", wie aus ganz normalen Menschen unter bestimmten Umständen Gewalttäter werden.
Zimbardo führte 1971 das berühmte "Stanford Prison Experiment" durch, in dem innerhalb kurzer Zeit zuvor harmlose Studenten zu brutalen Gefängniswärtern wurden. Gewalt ist möglicherweise sogar nur die zerstörerische Seite einer Eigenschaft, die in der Evolutionsgeschichte den Menschen das Überleben sicherte.
Dazu könnten sowohl der Jagdtrieb gehören als auch die Fähigkeit, sich seinen Lebensraum gegen Widerstände zu erobern. Dies würde erklären, warum besonders junge Männer anfällig für Gewaltexzesse sind. Menschen, denen man durch neurochirurgische Eingriffe oder durch Medikamente den Gewalttrieb nimmt, werden im Übrigen nicht friedfertig, sondern apathisch.
Die Gewalt in uns ist unbesiegbar
Die Menschen haben schon immer um die dunkle Seite ihrer Seele gewusst. Von der Gesetzessäule des babylonischen Königs Hammurabi bis zum modernen Rechtsstaat waren Gesetze, Gerichte und das staatliche Gewaltmonopol eine Antwort der Gesellschaft darauf. Große Religionsstifter versuchten es mit ethischen Geboten.
Dabei wurden große Fortschritte erreicht, weshalb es in Tuttlingen im Ganzen friedlicher zugeht als in Mogadischu. Dennoch ist es noch nie gelungen, irgendwo auf der Welt dauerhaft eine Gemeinschaft zu etablieren, die ganz frei von Gewalt ist. Einige Versuche endeten sogar im schlimmsten und abschreckendsten Terror.
Sehr viele gute Argumente sprechen dafür, soziale Ungerechtigkeit und die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen zu bekämpfen. Einige davon sind pragmatischer, andere ethischer Natur. Aber eines werden all die Anstrengungen, selbst wenn sie von Erfolg gekrönt sind, nicht erreichen: die Utopie einer friedfertigen Gesellschaft, in der Gewaltausbrüche undenkbar werden. Die Gewalt in uns ist unbesiegbar. An diese verstörende Erkenntnis erinnern uns auch die Ausschreitungen in England.
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