■ Nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden: Revolution an der Urne
Nie zuvor hat der niederländische Wähler die politischen Kräfteverhältnisse so durcheinandergewirbelt wie vorgestern. Nie zuvor auch war die Verwirrung bei Gewinnern und Verlierern gleichermaßen groß. Die Niederlande haben sich verändert, wie und in welchem Maße wird sich erst am Ende der jetzt folgenden, zweifellos langwierigen Koalitionsverhandlungen zeigen. Denn das Wahlergebnis ist nicht nur spektakulär, sondern auch paradox: Die großen Verlierer (der christdemokratische CDA und die sozialdemokratische PvdA) feiern sich als Sieger; und die Gewinner (die linksliberalen D66 und die rechtsliberale VVD) müssen erst mal abwarten, ob sie am Ende nicht doch als Verlierer dastehen.
Die „Revolution an der Urne“ paßt zum Teil zu den Entwicklungen, wie sie sich auch anderswo auf der Welt vollzogen haben: Probleme wie Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsströme und zunehmende Kriminalität haben zu Verunsicherung geführt, zu „Politikverdrossenheit“. Die regierende große Koalition aus CDA und PvdA ist jetzt das Opfer der öffentlichen Verärgerung geworden. Als sie 1989 antrat, verfügte die Koalition über 103 von 150 Parlamentssitzen. Geblieben sind ihr nurmehr 71. Zu wenig für die erforderliche Mehrheit im Parlament.
Am auffälligsten ist zweifellos die verheerende Niederlage, die der CDA hat einstecken müssen. Die Partei, die unter der Führung des scheidenden Premiers Ruud Lubbers stets vor Selbstvertrauen strotzte, ist vollständig eingestürzt: die Christdemokraten haben ein Drittel ihrer Anhänger verloren, die Schlüsselrolle, die sie seit 1918 in der niederländischen Politik einnahmen, scheint dahin.
Erstaunlich ist vor allem die Tatsache, daß die Wähler sich nicht massenhaft der rechtsliberalen VVD zugewandt haben, die der Koalition in den vergangenen Jahren am schwersten zugesetzt hat, sondern den linksliberalen D66, die vor vier Jahren allzu gerne mit den beiden Großen paktiert hätten. Auch das wiederum ein Beweis für das verwirrende Wahlverhalten der Niederländer. Auffällig auch der kometenhafte Start der Seniorenparteien – eine deutliche Warnung an die Adresse der traditionellen Volksparteien, daß die staatliche Altersversorgung als unantastbare Errungenschaft angesehen wird.
Der Aufstieg der rechtsradikalen Parteien beschränkt sich auf eine Steigerung um 1,2 Prozent auf 2,5 Prozent (3 Sitze). Gemessen an den Ergebnissen in anderen europäischen Ländern, aber auch an den Umfragen, hält sich deren Gewinn in Grenzen – ein bescheidener Lichtblick anläßlich eines Wahlergebnisses, dessen Folgen für die bislang so stabilen Niederlande im Moment kaum abzusehen sind. Mark Kranenburg, Den Haag
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