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■ Nach dem Hooligan-Terror von Lens: Ist der Ruf nach mehr Polizeibefugnissen auf europäischer Ebene gerechtfertigt?Ineffektiv und demokratisch zweifelhaft

Noch unter dem Eindruck der in Lens praktizierten terroristischen Gewalt, beschloß das Leitungsgremium des internationale Fußballverbandes Fifa am Wochenanfang ein Fünf-Punkte-Programm. Darin heißt es, „die Fifa wird die Initiative für eine stärkere Zusammenarbeit mit den politischen Autoritäten ergreifen, einschließlich derer der Europäischen Union. Dies im Rahmen einer kontinuierlichen Anstrengung, den Ruf des Fußballs zu schützen und neue gesetzliche Maßnahmen einzuführen, um dieses Ziel zu erreichen.“

Eine kuriose Absichtserklärung, die die Reputation der Sportart in den Mittelpunkt rückt und nicht die Sicherheit derer, die ihren „Begleitumständen“ ausgesetzt sind. Aber interessanter als diese Borniertheit ist der Verweis auf die Europäische Union als Handlungsfeld und der Ruf nach neuen supranationalen Ermächtigungen.

Mit dieser Haltung stehen die Fifa-Funktionäre keineswegs allein. Auf einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Sozialistischen Internationale (SI) beispielsweise, das vor wenigen Tagen in Berlin stattfand, gab Felipe Gonzáles, heute einer der führenden Köpfe der SI, folgendes zu bedenken: „Die Sicherheit von Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen war stets eine der Hauptaufgaben des Nationalstaats, eine Hauptquelle seiner Legitimation. Wenn wir die mangelnde ,europäische Identität‘ der Bevölkerung in der EU beklagen, müssen wir uns darüber Rechenschaft geben, daß die europäischen Institutionen bislang wenig getan haben, um diese Grundbedürfnisse auf europäischer Ebene zu befriedigen.“

Tatsächlich stehen wir „nach Lens“ vor einer merkwürdigen Situation. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der europäischen Polizeien funktioniert, aber die Zielgruppen sind nicht in erster Linie Kriminelle, erst recht keine neofaschistischen Gewalttäter. Die Mehrheit der vom internationalen Informationssystem Inpol erfaßten Fahndungsnotierungen trägt den Fahndungszweck „Ausweisungsverfügung“. Und bei drei Viertel der anderen Gruppe geht es um die Ermittlung von Wohnorten wegen geringfügiger Straftaten. Noch krasser tritt das Zahlenverhältnis im Schengener Informationssystem SIS zutage. Über 85 Prozent der Fahndungsausschreibungen betreffen dort Ausländer aus Nicht-EG-Staaten, die abgeschoben werden sollen. Die Zeitschrift Cilip resümiert den Charakter der Kontrollen, wie sie sich aufgrund des Schengener Abkommens eingespielt haben: „Auch bei den AusländerInnen kann die Kontrolle an sichtbaren Merkmalen – der Hautfarbe oder dem ,ärmlichen Aussehen‘ – ansetzen. Schon allein deshalb werden sie häufiger kontrolliert als die weiße und wohlanständige Mehrheit der mittel- und westeuropäischen Bevölkerung.“

„Weiß und wohlanständig“ – diesen Eindruck zu vermitteln, wird den terroristischen Gewalttätern aus Deutschland nicht schwerfallen, wenn sie die Kontrollen im rückwärtigen Gebiet diesseits und jenseits der Grenze passieren. Anders als die Fifa und europäische Sicherheitsfans glauben, würde auch eine speziell auf diesen Täterkreis zugeschnittene europäische Datei daran nichts ändern. Noch weniger könnten das Bestimmungen, die Europol zu internationalen Verfolgungsmaßnahmen ermächtigen würden. Dadurch würde lediglich das Problem einer Polizeitruppe verschärft, deren Arbeit keiner demokratisch legitimierten Kontrolle unterliegt. Denn die Daten, aufgrund derer internationale Polizeimaßnahmen erfolgen würden, sähen nicht anders aus als die Daten der Düsseldorfer ZIS-Behörde, die der Polizei in Lens übermittelt wurden.

Man verschone uns auch mit Vorschlägen, das Polizeirecht der EU-Staaten dem Vorbild jener deutschen Länder anzugleichen, die den „Unterbindungsgewahrsam“, sprich die Präventivhaft, an immer geringere räumliche und zeitliche Voraussetzungen knüpfen. Hätte die französische Polizei etwa im Umkreis von Lens Kontrollposten errichten sollen, die aufgrund der Hinweise deutscher „Physiognomisten“ potentielle Täter abgefangen hätten?

Der Ruf nach europäischen polizeilichen Maßnahmen ist uneffektiv und demokratisch unvertretbar. Ebenso wie die Idee, zu den Grenzkontrollen „vor Schengen“ zurückzugehen, ein Projekt, das von Nationalisten jeder Couleur vertreten wird. Erforderlich ist nicht der Wiederaufbau der Grenzanlagen, sondern eine Änderung der europäischen Einwanderungspolitik. Oder sollen wir jetzt, wo es gegen rechte Terroristen geht, plötzlich die koordinierten Schleierfahndungen gutheißen, die zwischen Baden-Württemberg und Frankreich beiderseits des Rheins laufen?

In Wahrheit offenbart Lens keinen Mangel an Polizeikooperation, dem durch internationale Maßnahmen abzuhelfen wäre. Die Spur dieser Verbrechen führt nach Deutschland zurück und zur deutschen Politik, zur Haltung deutscher Verbände, einschließlich des DFB, und zu großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit. Insofern sind die Forderungen des Fifa- Chefs Blatter an die Adresse der EU nicht nur hilflos, sondern auch ein Ablenkungsmanöver. Und die Lenser Bürger, denen nicht das miese Spiel der Deutschen, sondern die nachträglichen „Sieg heil!“-Rufe im Gedächtnis bleiben, sind nicht nur Opfer überkommener antideutscher Stereotype. Entgegen den Beteuerungen des Bundestrainers Vogts besteht eben doch ein Zusammenhang zwischen der deutschen Fußballnationalmannschaft und den terroristischen Aktionen neofaschistischer und sonstiger Gewalttäter. „Deutschland“, nicht das zivile, sondern das dumpf-atavistische, offenbart sich in den vieltausendstimmigen Schlachtrufen der deutschen Fans. Die deutsche Nationalmannschaft ist eine Chiffre, eine Residualkategorie des „reinen“ Deutschland, ein Hort der Tugenden, die sich an der gesellschaftlichen Basis längst zersetzt haben. Anders als bei den Vereinsmannschaften, wo die verschiedenen Hautfarben kapitalistisch-kosmopolitisch nebeneinander kicken, erstrahlt unsere Nationalmannschaft in Blütenweiß. Kein Zusammenhang zwischen dieser Tatsache und dem ethnisch fundierten Bild des Staatsbürgers, das unsere Gesetzen ebenso beherrscht wie die Öffentlichkeit? Und das trotz erleichterter Eindeutschungsbestimmungen für ausländische Starkicker? Wäre es nicht an der Zeit, sich das Telekom-Team bei der Tour de France zum Vorbild zu nehmen, statt nach mehr und effektiverem europäischem Polizeieinsatz zu rufen? Christian Semler

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