Nach angeblichem Piraten-Überfall: Moskau kapert "Arctic Sea"
Was genau auf dem lange gesuchten Frachter geschah, bleibt nach Ende der "Entführung" mysteriös. Russland gibt sich weiterhin wortkarg und die Spekulationen blühen.
STOCKHOLM taz | Vier Tage nach Auffinden des Frachters "Arctic Sea" vor den Kapverdischen Inseln und der angeblichen Beendigung einer Piratenaktion durch die russischen Armee sind gestern die vermeintlichen Piraten und 11 der 15 Besatzungsmitglieder des Schiffes in Moskau eingetroffen.
Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums handelt es sich bei den insgesamt acht Piraten um Bürger Estlands, Lettlands und Russlands. Laut estnischer Staatsanwaltschaft sind es zwei Letten, vier estnische Staatsangehörige russischer Herkunft und zwei russische Staatsangehörige, die in Estland wohnen.
Ursprünglich hieß es, es gab zwei Kaperungen: eine in der Ostsee zwischen Öland und Gotland, eine weitere vor der portugiesischen Küste. Dann wurde mitgeteilt, das sei gezielte Desinformation gewesen, es habe nur die eine Kaperung in der Ostsee gegeben, die Piraten seien seither die ganze Zeit an Bord gewesen.
Im russischen Fernsehen schilderte ein Besatzungsmitglied, wie sich die Kaperung zugetragen haben soll: Von zwei Seiten hätten Piraten die Brücke besetzt, dem Kapitän sei es aber gelungen, eine kurze Nachricht per Funk abzusetzen.
Das sind sparsame Informationen, welche die Spekulationen um einen eventuell ganz anderen Handlungsverlauf und eine möglicherweise heiße Fracht nicht verstummen lassen. "Nur wenn Raketen an Bord waren, könnte das das auffallende Interesse Russlands an dieser ganzen Geschichte erklären", meinte Tarmo Kõuts, Vizeadmiral und ehemaliger Oberbefehlshaber des estnischen Militärs, in einem Interview der estnischen Tageszeitung Postimees. Tarmo Kõuts absolvierte seine Marineausbildung zu Sowjetzeiten in Kaliningrad.
Die Zweifel des Esten werden von der schwedischen Polizei und Küstenwache bestärkt. Letztere hat die Schiffsbewegungen des Frachters analysiert. Dabei zeigte sich, dass die "Arctic Sea" in der fraglichen Nacht des "Piratenangriffs" im Seengebiet zwischen Gotland und Öland einen merkwürdigen Zickzackkurs steuerte.
Laut Dan Thorell, Leiter der "Region Süd" der schwedischen Küstenwache, gibt es nur eine sinnvolle Erklärung dafür: Die "Arctic Sea" hätte in dem dicht befahrenem Meeresgebiet versucht, jeweils eine Bordwand des Schiffes aus dem Blickfeld möglicher Augenzeugen auf vorbeikommenden Schiffen wegzudrehen. Das hätte dazu dienen können, die Existenz eines kleineren Schiffes an dieser Seite des Frachters zu verbergen.
Über die angebliche "Piratenaktion" wurde Stockholm von Moskau erst mit viertägiger Verspätung am 28. Juli informiert, als die "Arctic Sea" schon das westliche Ende des Ärmelkanals erreicht hatte. Zumal etwa gleichzeitig mit dieser Information das automatische Schiffskontrollsystem AIS an Bord der "Arctic Sea" abgeschaltet worden war und das Schiff damit für zivile Überwachung unsichtbar wurde.
Seltsamerweise erhielt die schwedische Polizei einen Tag später, am 29. Juli, von Moskau Fotos der angeblich von Piraten verletzten Besatzungsmitglieder auf der "Arctic Sea". In Stockholm wundert man sich, wie diese Fotos entstanden und übermittelt werden konnten, wenn das Schiff die gesamte Zeit unter Piratenkontrolle stand, wie es jetzt heißt - wobei ursprünglich Russland noch behauptet hatte, der Piratenüberfall sei nach einigen Stunden beendet gewesen.
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