Nach Olympia-Unfall: Katastrophen-Tourismus in Kurve 16
Nach dem letzten Rennen des georgischen Rodlers Kumaritaschwili will niemand schuld sein. Stattdessen wird weiter gerast und Katastrophen-Touristen besichtigen den Unfallort.
Tony Benshoof war der erste Rodler, der nach der Todesfahrt des Georgiers Nodar Kumaritaschwili wieder in den kalten Schlund der Eisrinne von Whistler blickte. Der US-Amerikaner schaffte es unfallfrei ins Ziel. Drei Rodler verzichteten auf das zweifelhafte Vergnügen einer Talfahrt auf der schnellsten Bahn der Welt. Unter ihnen war auch der zweite georgische Olympia-Starter Lewan Gureschidse.
Sein Landsmann Kumaritaschwili war am Freitagabend in Kurve 16 ins Schlingern geraten. Nachdem er die Kontrolle über den Schlitten verloren hatte, war er aus der Bahn geschleudert worden. Er prallte mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Stahlpfosten und erlag seinen schweren Verletzungen. Es heißt, er sei sofort tot gewesen. Er ist der dritte Athlet, der bei Olympischen Winterspielen sein Leben ließ. Der britische Rennrodler Kazimierz Kay-Skrzypeski und der australische Skifahrer Ross Milne starben 1964 in Innsbruck.
Im Sommer hat die taz die Leichtathletik-WM in Berlin wegen völlig überzogener Sicherheitsüberprüfungen, in die der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst involviert waren, boykottiert. Jetzt berichten wir wieder von einem sportlichen Großereignis, den Winterspielen in Vancouver. Im Zuge des Akkreditierungsprozesses hat das örtliche Organisationskomitee der Spiele, das Vanoc, auch persönliche Informationen auf einem Akkreditierungsformular zusammengetragen - etwa die Reisepassnummer, Geburtsort und Geburtsdatum. Das Vanoc hat diese Infos an die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) und die Einwanderungsbehörde Citizenship and Immigration (CIC) weitergegeben. Es wurde genau angegeben, wo die Informationen von beiden Behörden gespeichert werden. Nach dem kanadischen Datenschutzgesetz aus dem Jahre 1985 können sie jederzeit eingesehen werden. Notfalls können falsche Angaben korrigiert werden. Da es sich um einen wesentlich transparenteren Prozess als bei der Leichtathletik-WM handelte und obendrein die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt blieb, haben wir entschieden, von den Spielen zu berichten. (mv)
Nachdem die kanadische Polizei den Unfallort untersucht und auch der internationale Rodelverband Fil eine eigene Inspektion vorgenommen hatte, wurde entschieden, den Wettbewerb der Männer nicht auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, allerdings wurde der Start der Rodler nach unten verlegt. Überdies wurde die Bande an der Unglücksstelle erhöht. Die Eismeister waren angewiesen, für eher stumpfes Eis zu sorgen.
Unterdessen wird darüber diskutiert, wer die Schuld am Geschehen trägt. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili sagte am Samstag in Vancouver: "Die Offiziellen haben mir mitgeteilt, dass es ein menschlicher Fehler war, aber kein sportlicher Fehler darf zum Tod führen." Fil-Präsident Josef Fendt meinte, die Bahn sei schnell, "aber sicher". Er hatte sich vorm Unfall freilich etwas anders über den Geschwindigkeitshype im Rodeln geäußert. "Die Bahn ist zu schnell", hatte er gesagt, "wir hatten sie für maximal 137 Stundenkilometer geplant. Aber sie ist fast 20 Stundenkilometer schneller. Wir sehen das als Planungsfehler." Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 137 Kilometern pro Stunde solle jetzt nur noch für künftig gebaute Eisbahnen gelten, sagte Fendt in einem Interview.
Die Bahn in Whistler weist das größte Gefälle aller 16 existierenden Eisrinnen auf. Vor den Spielen wurde mit derlei Daten geworben, auch mit dem Rekord des Deutschen Felix Loch, der hier in der Spitze mit 153,98 Kilometern pro Stunde zu Tal gerast war. Für die Winterspiele waren Geschwindigkeiten von über 155 Stundenkilometern angekündigt worden. Die Bahn hat das Ingenieurbüro Udo Gurgel (IBG), ansässig in Leipzig, entworfen. Gurgel hat auch die olympischen Bob- und Rodelbahnen von Nagano, Calgary, Salt Lake City, Lillehammer und Turin geplant. "Die Verbände wollten eine richtig schnelle Strecke", sagte er während der Bauphase. Sie haben eine schnelle Bahn bekommen. Mit allen Konsequenzen.
"Alle Fachleute, die von Anfang an mit der Bahn zu tun hatten, haben vor der hohen Geschwindigkeit gewarnt", sagte der deutsche Cheftrainer für Bob und Skeleton, Raimund Behtge, unmittelbar nach dem Unfall. Vor allem Piloten mit weniger Erfahrung und eingeschränkten Trainingsmöglichkeiten haben in Whistler Probleme. Am Donnerstag war die Rumänin Violeta Stramaturaru verunglückt. Sie verlor bei ihrem Sturz das Bewusstsein. Bei den Trainingsläufen gab es insgesamt ein Dutzend Stürze. Doch auch Spitzenrodler mussten den Schlitten verlassen. Topfavorit Armin Zöggeler aus Italien kam auf der tückischen Bahn zu Fall. Auch die Goldfavoritin im Rennen der Frauen, Tatjana Hüfner, stürzte hier im Vorjahr im Training.
Training und Wettkampf verliefen am Wochenende ohne weitere Zwischenfälle. Vor dem Start Sonntagnacht legten die Rodler eine Schweigeminute ein, manche Piloten trugen einen schwarzen Aufkleber zum Zeichen der Trauer auf dem Helm. Einige Olympiazuschauer schienen weniger beeindruckt zu sein vom tragischen Tod des 21-Jährigen. Im Whistler Sliding Centre setzte nach Agenturberichten eine Art Katastrophen-Tourismus ein. Etwa 50 Leute sollen sich im Laufe des Trainings der Frauen, wie berichtet wird, "breit grinsend mit dem Rücken zur Kurve" haben fotografieren lassen, um das Bild als Souvenir mit nach Hause zu nehmen.
Nach den ersten beiden Läufen sah es nach einem deutschen Doppelsieg aus. Es führte Felix Loch vor David Möller. Loch fuhr in der Spitze 147,5 km/h schnell.
(mit dpa)
GEORGIENS PRÄSIDENT MICHAiL SAAKASCHWILI
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