NS-Opfer auf Hamburger Friedhof Ohlsdorf: Die Erinnerung wachhalten

Zur Arbeit gezwungen, für Experimente missbraucht – der Hamburger Friedhof Ohlsdorf gibt Auskunft über die Schicksale von NS-Opfern. Aber auch NS-Täter liegen hier. Ein Gespräch.

Foto: Picture Alliance/dpa/Angelika Warmuth

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18.10.21 | Interview von PETRA SCHELLEN

taz: Herr Rehkopf, wann wurden die Gräber für niederländische Kriegsopfer auf dem Ohlsdorfer Friedhof angelegt?

Lutz Rehkopf: Das war in den Jahren 1952/53. Damals haben die Niederlande Umbettungen von anderen Friedhöfen hierher angeregt, weil sie eine Gemeinschaftsanlage für die Kriegstoten haben wollten. Für die Pflege sind laut Völkerrecht die Regierungen der Länder verantwortlich, in denen die Gräber liegen. Aber einige Nationen – auch die Niederländer – pflegen ihre Gräber selbst, weil sie bestimmte Vorstellungen von der Gestaltung haben.

Wie viele NiederländerInnen sind hier begraben?

Es sind 306 Gräber, in denen insgesamt 350 niederländische Kriegstote bestattet sind. Es gibt also auch Gräber mit mehreren Toten.

Lutz Rehkopf, 57, Philosoph und Germanist, ist seit 2005 Pressesprecher der Hamburger Friedhöfe - AöR.

Diese Menschen waren nicht immer in Ohlsdorf bestattet. Von wo wurden sie umgebettet?

Das ist nicht ganz klar. Allgemeine Praxis ist allerdings, das die Menschen da beigesetzt werden, wo sie gestorben sind – bei Soldaten oder Fallschirmjägern zum Beispiel im nächstgelegenen Dorf. Bis heute gibt es kleine Ecken, auch in Hamburg, wo vier, fünf Kriegstote beigesetzt wurden. Da hat man einen Stein gesetzt, und wenn man die Namen wusste, hat man sie draufgeschrieben.

Für das Gedenken ist das aber eher unpraktisch: Wenn Niederländer nach Hamburg kommen und die Gräber besuchen wollen, gibt es besser einen zentralen, auch zentral zu pflegenden Ort für offizielle Gedenkveranstaltungen. Das ist ein Hauptgrund für solche Umbettungen. Hinzu kommt, dass man bei einer Gesamtgrabstätte auf dem Friedhof ein unbegrenztes Ruherecht in Anspruch nehmen kann – was bei einzelnen Familiengrabstätten nicht so einfach ist.

Wer waren diese niederländischen Kriegsopfer?

Vor allem Zwangsarbeiter – zu 99 Prozent Männer. 1956 wurde die Plastik „Fallender Mann“ des niederländischen Bildhauers Cor van Kralingen zum Gedenken an die 2.500 im KZ Neuengamme ermordeten Kriegsgefangenen aufgestellt. Über die Biografien wissen wir in der Friedhofsverwaltung allerdings nicht viel.

Über den Tod der „Valvo“-Frauen dagegen schon.

Ja, Rita Bake, Initiatorin des Gartens der Frauen und engagierte Erforscherin weibliche Biografien, hat das recherchiert. Sie schreibt: „Am Sonntag, den 8.6.1944 um 9.45 Uhr starben in den ZwangsarbeiterInnenlagern in Hamburg-Eimsbüttel – am Clematisweg und der damaligen Horst-Wessel-Straße, der heutigen Stresemannstraße – bei einem Bombenangriff auf die Philips Valvo-Werke 140 sowjetische Mädchen und Frauen zwischen 14 und 50 Jahren. Sie stellten dort Radioröhren für militärische Zwecke her und starben, weil sie nicht in die Luftschutzkeller durften. Diese Regelung des NS-Regimes wurde nach dem Tod dieser 140 Frauen geändert.

Stimmt es, dass auch der Friedhof Ohlsdorf ZwangsarbeiterInnen beschäftigte?

Das Sammelgrab der Valvo-Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg Foto: Hamburger Friedhöfe

Ja. Es herrschte Männermangel, weil etliche als Soldaten an der Front waren. Deshalb hat man für die Bestattungen der Bombenopfer KZ-Häftlinge eingesetzt und – ausschließlich männliche – Zwangsarbeiter zum Ausheben von Grüften und für die Grabpflege. Sie hatten eigene Baracken auf dem Gelände, und die Friedhofsverwaltung hat die NS-Behörden mehrfach aufgefordert, diese Menschen ausreichend zu ernähren. Es hat wenig genützt. Nach ein bis anderthalb Jahren hat die Friedhofsverwaltung dann aufgehört, Zwangsarbeiter zu beschäftigen, und die Grabpflege dann eben vernachlässigt.

„Nach anderthalb Jahren hat die Friedhofsverwaltung aufgehört, Zwangsarbeiter zu beschäftigen, und die Grabpflege vernachlässigt. Dabei hat man interessanterweise zuerst die deutschen Soldatengräber des Ersten Weltkriegs vernachlässigt, die britischen Soldatengräber aber akribisch gepflegt.

Dabei hat man interessanterweise zuerst die deutschen Soldatengräber des Ersten Weltkriegs vernachlässigt, die britischen Soldatengräber des Ersten Weltkriegs aber akribisch gepflegt. Das war eine der am besten gepflegten Anlagen auf dem Friedhof überhaupt. Bei der britischen Besatzungsmacht hat das nach Kriegsende für großen Respekt gesorgt. Aber was die Zwangsarbeiter auf dem Ohlsdorfer Friedhof betrifft: Das war nur eine kurze Episode.

Hat der Friedhof Ohlsdorf diese „Episode“ aufgearbeitet?

Wir haben seinerzeit 140.000 DM in die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter gezahlt. Wissenschaftlich haben wir diese Zeit noch nicht vollständig aufgearbeitet. Der Historiker Herbert Diercks, langjähriger Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, hat dazu allerdings intensiv geforscht.

Und wer ist in den Ohlsdorfer Gräbern für die sowjetischen Kriegsgefangenen bestattet?

Es waren Kriegsgefangene, die man nach Deutschland verschleppt und zur Zwangsarbeit gezwungen hatte, etwa im Straßenbau, beim Aufräumen vom Bombenschutt. In der Sowjetunion galten sie noch bis in die 1990er-Jahre als Verräter. Deshalb hat sich die Sowjetunion, anders als die anderen Nationen, praktisch nicht um die Gräber ihrer Landsleute gekümmert. Das haben alles wir gemacht.

Warum gilt das Areal heute nicht mehr „russischen“, sondern „sowjetischen“ Kriegsgefangenen?

Das geschah auf Anregung der nahe gelegenen Geschichtswerkstatt Willi-Bredel-Gesellschaft. Die Friedhofsverwaltung hat es sofort eingesehen und die Anlage umbenannt, weil die neue Bezeichnung „sowjetische Kriegsgefangene“ präziser ist. Denn unter ihnen waren ja nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer und Angehörige anderer Ethnien.

Und wie steht Russland heute zu der Anlage?

Inzwischen wird sie in unregelmäßigen Abständen von – früher sowjetischen, heute russischen – Veteranen besucht. Sie reisen mit dem Bus an, dann gibt es einen kleinen Marsch zu der Grabanlage und eine kleine Andacht.

Wie kamen die hier bestatteten Menschen um?

Es waren 384 Menschen, die zwischen 1941 und 1945 in verschiedenen Hamburger Arbeitslagern Zwangsarbeit leisten mussten. Ich zitiere aus dem Buch „Der Ohlsdorfer Friedhof. Ein Handbuch von A–Z“: „Viele Leichen kamen zunächst zur Untersuchung in das pathologische Institut des Reservelazaretts 5 nach Wandsbek, wo im Rahmen von Hungerversuchen mit tödlichem Ausgang auch sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden“.

Der Historiker Herbert Diercks schreibt außerdem: „Bekannt ist, dass in dem Reservelazarett seit September 1941 von dem Arzt Prof. Dr. Heinrich Berning medizinische Versuche an sowjetischen Kriegsgefangenen durchgeführt wurden. Die Hungerversuche brachten zahlreichen Gefangenen den Tod. Nach Kriegsende wurde Berning Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek … und internistischer Hauptgutachter des Hamburger Amtes für Wiedergutmachung bis 1983.“ Der Name findet sich auch in Rita Bakes Online-Datenbank der „Dabeigewesenen“.

Wir sind gerade dabei, diese Datenbank mit Bestatteten auf dem Ohlsdorfer Friedhof abzugleichen, weil wir planen, diese Gräber auch nach Ablauf der Ruhezeit zu schützen. Einige Tätergräber wurden schon geräumt, weil sich die Familien davon distanziert haben. Die Gräber, bei denen das noch nicht der Fall ist, wollen wir möglichst erhalten.

Zu welchem Zweck?

Es geht uns nicht darum, diese Menschen zu ehren oder besonders zu pflegen. Wir wollen vielmehr, dass die Erinnerung nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Täter wachgehalten wird. Denn auch diese Gräber sind unwiederbringliches historisches Gut und haben eventuell Urkundencharakter. 🐾

• Dieses Interview erscheint im taz Nord Thema Ruhestätten, Ausgabe Oktober 2021. Frühere Ausgabe des taz Nord Themas Ruhestätten können Sie hier nachlesen. Die Arbeit an den taz Themen wird ermöglicht durch Anzeigenschaltungen.

Petra Schellen ist Hamburg-Redakteurin der taz, sie arbeitet vor allem zu den Themenkomplexen Kultur und -politik, Drittes Reich, Judentum und Religion allgemein.