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Archiv-Artikel

NORMALZEIT VON HELMUT HÖGE Deutsch-deutsche Eliten

Wie der Osten einmal mit viel Wein begossen wurde

„Mauern einreißen/Krisen meistern/Das ist unser Alltag in Berlin“ (Anzeige der hessischen Commerzbank)

Auch die Weingutsbesitzer in Westdeutschland wollen heuer den „Mauerbruch“ 89 – und natürlich ihre guten Weine – zünftig feiern. Sie sind seit 1910 im „Verband Deutscher Prädikatsweingüter“ (VDP) organisiert. Unter dem Motto „Die Freiheit zu genießen – Genuss ohne Grenzen“ lud ihr Ehrenpräsident Michael Prinz zu Salm-Salm, ein pfälzischer Finanzfondsmanager und Weingutsherr, ins Wiesbadener Kurhaus. Die Gäste zahlten zwischen 195 und 650 Euro für eine „Galakarte“. Dafür wurde ihnen „Ostalgie in allen Sälen“, ein „Trabicorso“, ein Auftritt der Ostband Die Prinzen und ein Udo Lindenberg-„Lookalike“ geboten.

Vor der Tür hatte der Bundesverteidigungsminister ein Segment der Berliner Mauer aufstellen lassen. Daneben platzierte man einen Gelegenheitsjobber in Volkspolizisten-Uniform, mit dem die Gäste sich fotografieren ließen. Einige taten dabei so, als würden sie über die Mauer klettern oder sie einreißen.

Vorher gab es aber noch eine „Audienz“ beim Schirmherrn des 9. VDP-Balls, Ministerpräsident Roland Koch. Dort erschien auch der anscheinend einzige Gast aus Ostdeutschland: Roy Metzdorf, Besitzer des „Weinstein“ am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg – dem laut „Kleinen Johnson“ besten Weinlokal Deutschlands. Er hatte sein altes FDJ-Hemd dabei, das er jedoch nicht überzog, weil ihn das ganze reaktionäre Brimborium an dem Abend zu sehr irritierte.

So mahnte Roland Koch, bei aller Freude über die gewonnene Freiheit nicht die Bundeswehrsoldaten zu vergessen, die früher an der gefährlichen innerdeutschen Grenze Dienst getan hatten. Und der aus dem niedersächsischen Fürstentum Lippe stammende Schweinfurter Unternehmensberater Georg Prinz zur Lippe hielt eine Rede auf Sächsisch, denn er hatte 1990 das bei Meißen gelegene Weingut seiner Familie „Schloss Proschwitz“ zurückgekauft.

Wieder zurück im Osten erzählte Roy Metzdorf dem Horno-Aktivisten Michael Gromm und mir: „Beachtenswert war außerdem, dass man zum Dinner sechs westdeutsche Weine reichte, die von ostdeutschen Kellnern serviert werden durften; dass Ministerpräsident Koch zum Prinzen-Lied ‚Du musst ein Schwein sein‘ stehend und rhythmisch mitklatschte, während man zum Lied ‚Ich wär’ so gerne Millionär‘ Kerzen schwang. 20 Jahre nach ’89 hat man sich dort also den Osten so richtig kommen lassen!“

Solche Geschichten hören wir gerne, besonders in Krisenzeiten. Aber, so fuhr Roy Metzdorf fort: „Wer glaubt, derlei Skurrilitäten können nur im Westen blühen, irrt. Noch vor dem Mauerbruch spielte sich in der DDR, wie mir erzählt wurde, Folgendes ab: Den Wehrdienst leistend musste einmal eine komplette Kompanie im Winter in kurzen Hosen antreten. Es kam ein Offizier, der die Beine der Soldaten begutachtete und die zehn Jungs mit den dicksten Waden abführte. Sie wurden in ein Waldstück gebracht, in dem ein bajuwarisch blau-weiß geschmücktes Bierzelt stand. Die Dickwaden bekamen Krachlederhosen und Trachtenhemden verpasst und mussten einen Abend lang Maßkrüge schleppen und so tun, als seien sie Almbuben. Zu bayerischer Live-Blasmusik tafelte an Holztischen niemand anderes als der Minister für Nationale Verteidigung, Genosse Armeegeneral Heinz Keßler, mit der versammelten militärischen Elite der DDR. Einige Jahre vor ’89 hatte man sich also hier den Westen so richtig kommen lassen!“ Foto: W. Borrs