NEUKÖLLNER NACHT : Teil der Bewegung
Es knallte im zweiten Hinterhof ohrenbetäubend und kurz vor Mitternacht. Ein bislang unentdeckter Silvesterblindgänger, der in einem Fahrradsattel einen spritzwassergeschützten Unterstand gefunden hatte, folgerte ich zwischen Traum und Realität, war von marodierenden Jugendbanden gefunden worden und riss mich nun aus dem Schlaf – ein Paukenschlag, der gleichzeitig kundtat von einer Revolution tausende Kilometer entfernt.
Ich hatte die Bilder im Internet gesehen und statt wie sonst den Polizeinotruf schlafwandlerisch ins schnurlose Telefon zu tippen, ließ ich es zu, dass ein Lächeln sich meiner Lippen bemächtigte. Denn ich kannte meine Pappenheimer unter der Neuköllner Loft wohl: Arabqueens und -kings tanzten in diesen Stunden in leichten Jacken der Dunkelheit trotzend ausgelassen die Sonnenallee hinauf und hinunter. So groß war die Freude über die politischen Eruptionen in den Heimatländern ihrer Eltern und Großeltern.
Auch ich – ich gebe es freimütig zu – wollte Teil der Bewegung sein und schlüpfte in meinen grau gesteppten Mantel. Ein Freund hatte ihn unlängst als Pferdedecke beschimpft. Doch die karierte, ausgebauschte Pyjamahose machte sich darunter ausgezeichnet, redete ich mir ein und zog eine gehäkelte Mütze tief ins Gesicht. Rein zufällig hatte ich mich seit Tagen nicht rasiert. In der Neuköllner Nacht war ich einer von vielen und feierte mit den fleißigen Falafelbäckern die Jasmin- (Tunesien), die Weinblätter- (Ägypten), die Safran- (Jemen), die Tabuleh- (Libanon), die Schwertfisch- (Algerien) und die Harissa- (Marroko) Revolution zu Ghettoblatterbeats und gezuckertem Schwarztee. Wir alle waren Brüder. Ob über die nächste Haloumibestellung hinaus, wage ich nicht vorherzusagen. Und ja, mein Look, der sorgte für ironische Kommentare. Wohl die Hose vergessen, Habibi? Jalla! TIMO BERGER