NACH DEN PROTESTEN GEGEN DIE „HOMO-EHE“ PRÄSENTIERT SICH PARIS SOMMERLICH-FRIEDLICH WIE EH UND JE : Stille Tage im Marais
MARTIN REICHERT
Ankunft in Paris, Flughafen Charles de Gaulle, 9.16 Uhr. Eigentlich müsste man diese Ortsmarke jetzt auf Facebook absetzen: „Bin in der westeuropäischen Hauptstadt der Homophobie. Falls mir was passiert, grüßt alle, die mich kennen. Im Todesfall schüttet das Presseversorgungswerk einmalig 5.000 Euro aus, das reicht für die Beerdigung. Urne bitte, danke.“
Vor Kurzem demonstrierten hier in Paris noch über hunderttausend Menschen gegen die „Homo-Ehe“, hielten theatralisch ihre Kinder in die Kameras. Ausschreitungen. Gewalt. Massives Polizeiaufgebot. Es gab verstärkt Übergriffe auf Schwule – es war so, als hätte jemand die Büchse der Pandora geöffnet, aus der Ferne betrachtet: ein Albtraum. Bilder, die man so in Deutschland lieber nicht sehen möchte; aber in Merkelland besteht keine Gefahr – hierzulande wird die Gleichstellung der Homosexuellen politisch als Sachzwang verkauft, das Bundesverfassungsgericht hat es so angeordnet, da kann man nichts machen. Und demonstrieren nützt schon gar nichts.
Die am Flughafen beschäftigten französischen Homosexuellen wirken jedoch auf den ersten Blick relativ unbeschädigt, der ein oder andere scheint höchstens ein wenig übernächtigt. Und auch in Centre-Ville geht alles seinen beruhigend normalen Gang. Hunderttausende sind auf den Beinen, um die Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten ins Koma zu fotografieren, Touristen aus aller Welt. Notre Dame hat Geburtstag und steht herausgeputzt an der Seine herum, im Inneren wird Pracht bestaunt, und nichts weist mehr darauf hin, dass sich hier kürzlich ein rechtsradikaler Intellektueller vor dem Altar erschossen hat – aus Protest gegen die „Homo-Ehe“ und überhaupt alles, was das französische Abendland gefährdet.
In der Metro rollt eine erschöpft wirkende Dame einen fahrbaren Verstärker in die Mitte, nestelt an einem alten Mini-Disc-Player herum, hält sich ein zerbeultes Mikrofon vor den Mund und singt „Besame Mucho“ von Dalida. Ein schwules Pärchen gibt ihr freundlich lächelnd etwas Geld. Ein Heteropärchen in der Reihe dahinter betätigt sich ausgiebig im Bereich „French Kissing“.
Auf den Straßen hört man überall „Get Lucky“ von Daft Punk, der Song dringt aus Cafés, aus fahrenden Autos; die Sonne scheint durch den Sprühregen, ein Regenbogen leuchtet auf. Im Marais gehen bärtige junge Männer Hand in Hand. Die Restaurants sind voll, Pastis steht auf den Tischen, es wird geraucht. Frauen mit großen Sonnenbrillen lachen. Eine amerikanische Touristin mit brandneuer Chanel-Handtasche erklärt ihrer Begleitung: „Marais is the home of the jews and the gays“, und beißt in ein Eclair.
Dienstag Deniz Yücel Besser
Mittwoch Matthias Lohre Männer
Donnerstag Ambros Waibel Blicke
Freitag Michael Brake Nullen und Einsen
Sonntag Kübra Gümüsay Das Tuch
Am Abend bin ich bei Beatrice und Sylvain eingeladen. Es gibt „Poulet rôti“, dazu Kartoffelpüree und Salat, ein kleines Weißbier. „Eigentlich ein Mädchenbier“, sagt Beatrice entschuldigend, „aber ich habe sonst nichts im Haus, auch keinen Wein.“ In der Mitte ihres Körpers wölbt sich eine riesige Kugel, sie ist im achten Monat schwanger. Sie sagt: „Diese verrückten Demonstranten. Was bilden die sich ein? Was beschweren sie sich, dass sie von der Polizei attackiert werden, wenn sie sich nicht an die vorgeschriebene Route halten? Und warum nehmen sie ihre Kinder mit?“
Zum Abschied nehmen mich Beatrice und Sylvain fest in den Arm.