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Mythologische Unterhaltung

Im Altonaer Theater bringt Holger Müller-Brandes das Kammermusical Ikarus von Oliver Probst zur Uraufführung  ■ Von Marcus Meyer

Wenn ein neues Musical zur Uraufführung vorbereitet wird, stellt sich eigentlich als erstes die Frage, wer sich an wem und warum bereichern will. Doch der der Premiere im Altonaer Theater zugrunde liegende Stoff liegt weit weg von der üblichen ausgeleierten Andrew-Lloyd-Webber-Gelddruckmaschine und verheißt eine interessante Mischung aus Unterhaltung und anspruchsvoller Dramaturgie – also etwas, das auf deutschen Bühnen sehr selten ist. Denn der Komponist Oliver Probst – gleichzeitig sein eigener Textautor – hat sich mit Ikarus eines Themas aus der griechischen Mythologie angenommen.

Die Geschichte des auf der Insel Kreta tätigen genialen Baumeisters und Mathematikers Daedalus dient als assoziativer Angelpunkt des Stückes. Die Erfindung des Zirkels, des Segels, des Labyrinths des Minotaurus und schließlich die Eroberung des Luftraums durch selbstgemachte Flügel – all das wird Daedalus zugeschrieben. Als er vor dem Tyrannen Minos fliehen muss, der darüber erregt war, dass sich seine Gattin Pasiphae von Daedalus eine hölzerne Kuh bauen ließ, mit deren Hilfe sie sich von Minos' bestem Zuchtstier besteigen lassen konnte, stürzt sein Sohn Ikarus ins Meer. Das Wachs, das die Flügel zusammenhalten sollte, schmilzt, als er sich zu nahe zur Sonne aufschwingt. Im Allgemeinen dient dieser Mythos dazu, die Vorzüge gemäßigter Vernunft aufzuzeigen; er kann aber auch so gelesen werden, dass der Sohn abstürzt, weil er blindlings seinem Vater folgte, dessen patriarchalisches und autoritatives Wesen ihn in Unselbständigkeit verharren ließ.

Der in Film- und Schauspielmusik gleichermaßen erfahrene Probst hievt in seinem bislang vierten Musical – nach den Werken Bunker, uraufgeführt 1987 auf Kampnagel, Palace und Tanker – das Gegenteil einer Fantasy-Maschinenkomödie auf die Bühne. Sein konzentriertes Stück ist ein Kammermusical, das mit nur vier Darstellern auskommt. Das antike Vorbild dient als Parabel, die gleich auf mehreren Ebenen mit der eigentlichen Handlung verknüpft wird. Die Hauptfigur heißt Laurent und ist Komponist, der sich in das Landhaus seines Vaters zurückgezogen hat, um eine Oper zu komponieren: „Daedalus“. Laurent verliebt sich in eine junge Frau, die alsbald ermordet wird. Er wird wegen des Mordes verhaftet, doch es stellt sich heraus, dass sein Vater der eigentliche Schuldige ist.

Die psychologische Konstellation der Vater-Kind-Beziehung wird im zweiten Teil des Stückes ausgelotet. In der Situation des jungen Künstlers, der sich nie ganz von seinem Vater emanzipiert hat, der allerdings nichts anderes versucht hat, als genau das (warum sollte er sonst eine Oper mit dem Titel „Daedalus“ schreiben?), findet sich die mythologische Konstellation wieder.

Die Vielfalt der musikalischen Herangehensweisen lässt ein spannendes Hörerlebnis erwarten. Der Komponist spielt mit drei verschiedenen ästhetischen Ebenen. Übliche Musical-Songs an emotionalen Eckpunkten bedienen das Unterhaltungsgenre. Fast alle Sprechszenen sind mit atmosphärischer, melodramatischer Musik unterlegt, die den Bereich synthetischer Klänge zur Illustration der Stimmungen ausnutzt; Oliver Probst arbeitet an diesen Stellen unter Ausnutzung filmischer Kritereien. Wenn Laurent in der Einsamkeit seiner Studierstube komponiert, erklingt – seinen Gedankenbewegungen folgend – ein Chor, der Ausschnitte aus der soeben entstehenden Oper wiedergibt und den Mythos nacherzählt. So wird die im Stück komponierte Oper zum Kommentar der Handlung, die Künstlertragödie wird gespiegelt. Die gedankliche Welt des Künstlers stößt auf sein echtes Leben. Realität und Imagination illuminieren sich gegenseitig.

In der Uraufführung am Altonaer Theater kommt die Musik vom Band. Die „Opern“-Chöre wurden vom Vokalkreis Bielefeld, einem hochprofessionellen Kammerensemble unter Leitung von Christian Willner eingespielt. Holger Müller-Brandes, der an der Hamburger Universität Musiktheater-Regie studiert hat und seit seinem Abschluss an zahlreichen deutschen Theatern tätig war, führt Regie; Hans Peter Korth entwirft die Bühne, Almut Blanke die Kostüme.

Premiere: Sa, 25. März, 20 Uhr, Altonaer Theater

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