: Mythen am Grab
Politische Totenrituale, erklärt Olaf B. Rader in seinem gerade erschienenen Werk „Grab und Herrschaft“, dienen zur Neuordnung von in Unordnung geratenen Gesellschaften. Der Ritus am Grab gefallener Helden ist die symbolische Konstruktion von Vergangenheit. Immer wieder haben Herrscher solche Inszenierungen genutzt, um ihre Macht zu sichern. Die Geschichte wird beschworen, um die Gegenwart zu erklären, so Rader. Oder zu verklären. Wie auch die international üblichen Grabmale für den Unbekannten Soldaten herrschaftsstabilisierend wirken sollen.
In einer Kolonne offener Wagen fuhr Adolf Hitler im Juni 1940 durch das besiegte Paris zum Invalidendom, um den monumentalen Sarkophag Napoleons zu sehen. Am Grabmal gab Hitler den Befehl, die Gebeine von dessen Sohn, offiziell Napoleon II. genannt, aus Wien hierher zu überen. Das Kalkül: Indem der Diktakor den Napoleon-Kult forcierte, hoffte er auf Anerkennung. Doch die propagandistische Wirkung blieb aus.
Max Weber bemerkt zu solchen Versuchen: „Wo urspünglich die eigene Tat nobilitierte, wird nun der Mann nur noch durch die Taten seiner Vorfahren legitimiert.“ Slobodan Milošević besuchte am 28. Juni 1989 den Schauplatz der Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo. Sechshundert Jahre zuvor war hier das Heer des serbischen Fürsten Lazar geschlagen worden, was den Untergang des serbischen Reichs bedeutete. Am historischen Platz hielt Milošević eine aufrührerische Rede. Wie der Nationalist Vuk Drasković es formulierte: „Serbisches Land ist überall dort, wo serbische Gräber sind.“
Die weltgeschichtlich wohl bedeutendste Grabstätte ist das Heilige Grab in Jerusalem. Auch wenn sie nur wenige Tage genutzt wurde, hat der Kult um diese Stätte doch jede Menge Unheil über die Menschheit gebracht. Immer wieder wurden aufwändigste Kreuzzüge bemüht, um die Hoheit über das Grab zu erhalten – und nebenbei noch die Reichtümer des Orients zu erheischen.
Das Prunkgrab zieht Herschaftsansprüche an, aber vereitelt das Fehlen von Gräbern den Totenkult? Auf dem Flughafen des heutigen Lubumbashi wurde Patrice Lumumba, der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident des Kongo, zum letzten Mal lebend gesehen. Hier wurde er festgehalten und dann an einem unbekannten Ort gefoltert und hingerichtet. Nach der Tat wurde die Leiche in einem Säurebad aufgelöst, um alle Spuren und alle Erinnerung zu löschen. Nichts Materielles sollte von dem Führer der Freiheitsbewegung übrig bleiben. Gegen die Täter wird heute in Belgien und in Afrika ermittelt.
Frauen kommen in Raders Betrachtungen nur als Grabbeigabe vor: Nachdem Troja gefallen war zum Beispiel, konnten die Archäer, wie es schon Ovid beschreibt, wegen schweren Sturms nicht die Heimreise antreten. Sie entschlossen sich, ihre schönste Frau am Grabe des Achill zu opfern, damit dieser als Held etabliert würde und seine Blutgier gesättigt wäre. Die „einem Götterbild ähnliche“ Polyxena wurde von Achills Sohn auf den Grabhügel geführt und dort mit einem goldenen Schwert hingerichtet – so der von Euripides beschriebene Mythos. Das Menschenopfer sollte die Kräfte des Kriegers bannen und das Ende der Mission darstellen, die mit der Opferung Iphigenies als Auftakt zum Trojanischen Krieg begonnen hatte. JUL
Olaf B. Rader: „Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin“. C.H. Beck, München 2003, 272 Seiten, 26,90 Euro