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Archiv-Artikel

kritik der woche Mutig am Seidentischdeckchen

„Mut alleine reicht nicht, um die Welt zu verbessern“, sagt Maya Birken zum Auftakt der „Faust in der Tasche“-Lesetour des Hannoveraners Jan Egge Sedelies. Doch mutig ist es schon von ihr, die politische Lyrik des 25- Jährigen im eigenen kleinen Verlag „zeter und mordio“ herauszubringen, wo doch Lyrik nur wahrgenommen wird, wenn ihr Verhältnis zur Politik von einem Enzensberger oder Grass diskutiert wird.

Noch mutiger ist es, die Sedelies’sche Agitprop-Performance zusammen mit den süßsauer romantischen Songs der wunderbaren Hamburgerin Katriana als „Konzertlesung“ aufs Publikum loszulassen. Und am mutigsten ist, das Ganze im schicken enercity expo café zu starten, als eine akkurate Wasserglaslesung mit Blumen und Seidentischdecke.

Abgesehen davon, dass man sich so neben den altlinken Lindenern, die Sedelies eh schon alle erobert hat, ein neues Publikum erschließen kann, macht genau dieser Spagat zwischen Establishment und alternativer Kulturkritik den besonderen Charme der Lesung aus: Literaturaktivist Sedelies ist angetreten gegen die „Musterschwiegersöhne vom Schlage eines Florian Illies“ – so formuliert’s im prominenten Vorwort, Tanja Dückers – und lässt den Vorwurf, die Enkelgeneration der 68er sei verwöhnt, behäbig und politikverdrossen, nicht auf sich sitzen.

Er zitiert Fried, Meinhof und Büchner, ordnet sich ein in eine Tradition des literarischen Widerstands und des engagierten Journalismus. Mit Aktualitätsbezug schreit er an gegen die Mauern der Festung Europa, die mit dem letzten Flüchtlingsdrama in Melilla „nun endlich dafür gesorgt hat, dass jeder das Wort ‚Exklave‘ kennt“, und ist sehr wort- und lautstark darin, die Politiken des Alltags anzugreifen: „jeden Tag Kaffee, um einmal am Tag fair zu handeln“.

Gleichzeitig reflektiert Sedelies, selbstironisch und brav wie es sich als Soziologie-Student im Negt-Hannover gehört, die Rolle des Intellektuellen bei der gesellschaftlichen Neugestaltung, wenn er seine „Mittelstandsjugend mit irgendeiner gefärbten Frisur und irgendeiner Attitüde gegen irgendwas und dem Punk-Sampler im CD-Player“ in Bezug zu setzen sucht mit den Anschlägen von Neo-Nazis in den neuen Bundesländern, der Auflösung der 90er-Jahre Boygroup „Take That“ und der Diskussion um deutsche Leitkultur.

Was in Buchform Gefahr läuft, von echter Wut zur sentimentalen Attitüde zu verblassen, weil Sedelies unverhohlene Bewunderung für die alten Theorien ihn auch leicht blind macht für deren ideologischen Chic, funktioniert auf der Bühne mit Mikro in der Hand erstaunlich gut. Und wenn Sedelies dann noch ganz sanft den Mikrofonständer umschmeißt, dann gewinnt auch beim Publikum das hüpfende Herz die Oberhand über die schon lange gegen Schlagzeilen müde gewordenen Augen. Nein, allein wird er nicht reichen. Aber: Der Mut ist zumindest der Anfang, die Welt zu verbessern. Kerstin Fritzsche

Tour-Stationen in Norddeutschland: 14.10. Braunschweig; 15.10. Langenhagen; 17.10. Wunstorf; 12.11. Hamburg, 13. 11. Lübeck „Niemals so ganz“, zeter & mordio, 80 S., 7,90 Euro