■ Kurden: Rhetorische Annäherung zwischen Ankara und Bonn: Mut der Verzweiflung
Das Flüchtlingsdrama vor der italienischen Küste wirft viele Fragen auf: Exportiert die Türkei, der in Luxemburg die EU-Tür vor der Nase zugeknallt wurde, nun etwa aus Rachegefühlen ihre ungeliebten Kurden nach Europa? Warum öffnet Rom, nachdem es zuvor albanische Schiffe gar untergehen ließ, nun den Kurden seine Tür? Und: Wenn Ankara bei der Ausreise der Kurden beide Augen zudrückt, warum verlangt es hinterher, daß sie zurückgeschickt werden?
Fragen über Fragen. Tatsächlich können so viele Menschen kaum unbemerkt und ohne behördliche Duldung ausreisen. Eine gewisse „Da habt ihr eure Kurden“-Haltung ist nicht von der Hand zu weisen, auch wenn dies die Kurdenproblematik erneut auf die Tagesordnung bringt und damit Ankaras unveränderte Politik international angeprangert wird. Die Türkei weiß sehr genau, daß die EU-Staaten, allen voran Deutschland, den Kurden am liebsten nur aus der Ferne Rosensträuße schicken. Wenn die Menschen es aber schaffen, in Frankfurt zu landen, decken sich plötzlich der deutsche und der türkische Diskurs: Sowohl Bonn als auch Ankara sprechen von „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „Illegalen“. „Die nicht in Italien oder Griechenland ins Netz ghen, drängen ins übrige Europa“, klagt Kanther. Also sollen die anderen, bitte schön, ihre Grenzen dichtmachen, damit nicht Deutschland die Versäumnisse der EU-Partner ausbaden muß.
Im Wahljahr muß die Bundesregierung handeln, statt zu reden. Das Volk ist verunsichert, Arbeitslosigkeit hin, Euro her. Wir haben sowieso zu viele Ausländer. Wirtschaftsasylanten auf Geisterschiffen. Unfähige Italiener. Durchlässige Grenzen. Kanther ist gefragt. Die Grenzen müssen mit doppeltem Stacheldraht umzäunt werden. Wachtürme und Scheinwerfer müssen her. Schäferhunde, scharfe Munition. Abschreckung durch Einzelzellen...
Die Herren, die über Leben und den Tod von Menschen entscheiden und sie in der internationalen Politik zu einfachen Spielfiguren degradieren, haben vor lauter bürokratischem Zynismus nicht etwa vergessen, daß es Menschen sind, über die sie reden. Um Menschen wie invadierende Heuschrecken behandeln zu können, müssen sie erst sprachlich entmenscht werden, darin unterscheiden sich Bonn und Ankara nicht. Aber auch eine Lösung der Kurdenfrage würde den Exodus nicht stoppen, denn vor der Tür des reichen Nordens leben genug Menschen, die ihren Mut aus der Verzweiflung schöpfen. Dilek Zaptçioglu
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