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Musik-Raritäten aus Großbritanien"Trends muss ich nicht nachlaufen"

Der Londoner Stadtteil Ladbroke Grove ist ein musikalischer Schmelztiegel. Dort residiert seit 1974 der Plattenladen "Honest Jons" mit eigenem Label für vergessene Platten.

Echte Raritäten und vergessene Musik bietet der Londoner Laden "Honest Jons" seinen Kunden an. Bild: dpa

Dass ein Labelmacher vorgibt, er lasse sich bei seiner Arbeit von "Unwissenheit" leiten, ist an sich schon bemerkenswert. Aber Mark Ainley benutzt den Begriff auch noch, als sei er das Selbstverständlichste in der Welt eines Musikexperten. "Ich höre mir Musik an, ohne zu wissen, wer die wichtigsten Performer einer bestimmten Periode oder eines bestimmten Stils waren, und recherchiere erst später, wer hinter der Musik steckt und welche historische Bedeutung er hat", sagt Ainley.

Das ist eine verblüffende Erklärung dafür, wie Honest Jons Records, das Label, das Ainley gemeinsam mit Alan Scholefield und dem Blur-Musiker Damon Albarn seit 2001 betreibt, Musik zu Tage fördert, die westlichen Plattenkäufern bisher verborgen geblieben ist. Das Labelspektrum reicht von 80 Jahre alten Liedern aus dem Irak bis zu Musik, die Einwanderer aus Afrika und der Karibik zwischen den 1920er-und 1960er-Jahren in London produziert haben. Stets enthalten die Zusammenstellungen Booklets mit bisher eher unbekannten, aber essenziellen Informationen über den gesellschaftspolitischen Kontext, in dem die Songs entstanden sind.

Als Charakterisierung für die Musik von Honest Jons dient den Labelmachern der Begriff "Outernational". Damit lässt sich auch ein Großteil der Musik beschreiben, die der zum Label gehörende gleichnamige Plattenladen im Londoner Stadtteil Ladbroke Grove bereits seit 1974 anbietet: Reggae, Salsa, Brazil, Pop aus Afrika, aber auch moderne Dancefloor-Sounds aller Schattierungen.

Das im Westlondoner Distrikt Notting Hill gelegene Viertel ist ein naheliegender Standort für "Honest Jons". In den 60er-Jahren war Ladbroke Grove "Epizentrum des britischen Undergrounds", wie der Autor Nigel Cross schreibt. Hier lebte ein Großteil der karibischen Einwanderer, hier ließ sich 1962 auch Chris Blackwell mit Island Records nieder, um Ska aus Jamaika zu importieren, und hier bildete sich der einflussreiche Hippie-Aktivistenzirkel London Free School um den Pink-Floyd-Manager Peter Jenner und den Musikproduzenten Joe Boyd. T. Rex lebten in Ladbroke Grove, als die Band noch Tyrannosaurus Rex hieß, Underground-Rockbands wie Edgar Broughton Band und Hawkwind stammen aus der Gegend. Eine fotografische Hommage an diese Wurzeln stellt das Booklet des Honest-Jons-Samplers "Lif Up Yuh Leg An Trample. The Soca Train From Port Of Spain" dar - mit Bildern aus dem Ladbroke Grove der 60er-Jahre und vom Notting Hill Carnival aus den 70er-Jahren. Die Musik des Albums ist übrigens aufgeheizter uptempo Soca mit Bezug zum zeitgenössischen Dancefloor.

Ainley sagt, der Plattenladen sei 15 Jahre "auf dem Zahnfleisch" gekrochen, die Lage bessere sich erst langsam. Darauf habe aber das jüngst erwachte Interesse junger weißer Indiebands an afrikanischer Musik kaum Einfluss. "Die sozialen Aspekte des Plattenverkaufens, das Reden über Musik, sind weiterhin sehr wichtig", sagt Ainley. Von dem kleinen Outernational-Boom hätten allenfalls einige wenige Veröffentlichungen profitiert. Im vergangenen Jahr hat Honest Jons etwa "Lagos Shake" veröffentlicht, ein Remix-Album, auf dem DJ-Veteranen wie Carl Craig und aktuelle Dancefloor-Tausendsassas wie Diplo Stücke des ehemaligen Fela-Kuti-Schlagzeugers Tony Allen bearbeiten.

Honest Jons stehe aber für ganz unterschiedliche Ansätze, betont Ainley. "Einige der Platten sind ziemlich pur und haben mit populärer Musik gar nichts zu tun. Auf der Compilation ,Living is hard' etwa ist Musik westafrikanischer London-Einwanderer der 20er-Jahre zu hören, die hat nun wahrlich kein Crossover-Potenzial. Das ist Folkmusik, und ich will den puren Folk spüren." Was Trends betreffe, sei es in gewisser Hinsicht "notwendig, sie nicht zu verfolgen, wenn man die Musik finden möchte, an die man wirklich glaubt".

Dieser Glaube erstreckt sich keineswegs nur auf im weiteren Sinne obskure Musik. So hat das Label die Southern-Soul-Größe Candi Staton zur Rückkehr in die weltliche Popmusik animiert, nachdem sie zweieinhalb Jahrzehnte lediglich als Gospel-Künstlerin aktiv gewesen war. Wenn Ainley den Begriff "pur" verwendet, dann meint er damit: zu pur, um jungen Mittelklasse-Musikern aus der westlichen Welt als vitalisierendes Element für einen potenziell hippen Sound dienen zu können. Ein Loblied auf sogenannte unverfälschte Roots-Musik singt der Labelmacher keineswegs.

Honest-Jons-Platten belegen vielmehr, dass es so etwas wie reinen Klang oder eindeutig zuzuordnende Herkunft gar nicht gibt, sondern dass auch Sounds aus entlegenen Winkeln der Musikwelt schon zu einer Zeit globalisiert wurden, als dieser Begriff noch nicht verbreitet war. Migrations- und Remigrationsbewegungen - zum Beispiel nach London und zurück - brachten den Export und Re-Import lokaler Musikstile mit sich, und durch das Überlappen verschiedener Einflüsse entstanden neue Mixturen. Eine aktuelle Compilation verdeutlicht diese Entwicklung: "Marvellous Boy - Calypso from West Africa". Calypso ordnet man gemeinhin der Karibik zu, dennoch war diese Musik im Westafrika der 50er-Jahre weit verbreitet - bis dieser Einfluss mit Beginn der 60er-Jahre an Bedeutung verlor, weil zum einen aus den USA Blues, Soul und R&B herüberschwappten, zum anderen wieder eine Rückbesinnung auf traditionelle Klänge zu spüren war.

Die Zusammenstellung ihrer Platten erledigen Honest-Jons-Macher allein, es gibt keine Netzwerke, die bei der Forschungsarbeit in den verschiedenen Regionen behilflich sind. "Aber in anderer Hinsicht sind wir natürlich auf Unterstützung angewiesen." Für das Album "Give Me Love. Songs Of the Brokenhearted", die Musik aus dem Bagdad der 20er-Jahre versammelt, spürte man den irakischen Experten Yeheskel Kojaman auf, ein Zeitgenosse der auf der CD vertretenen Interpreten. "Er konnte uns nicht nur etwas über die Musiker erzählen und über die Sängerinnen, bei denen es sich oft um Prostituierte handelte, sondern auch über seine Erfahrungen als jüdischer Kommunist im Irak. Zwischen 1949 und 1958 saß er im Gefängnis - und floh danach unter spektakulären Umständen aus dem Land."

"Give Me Love" war 2008 einer der ersten von zahlreichen Alben, deren Songs aus dem Archiv der EMI stammen. Ende 2006 begann Honest Jons dort zu recherchieren. "Man muss bedenken, dass sich dort 150.000 Platten befinden, die nicht regional oder stilistisch geordnet sind, sondern nur nach Katalognummern. Aber die Arbeit hat sich gelohnt, wir haben noch zahlreiche Projekte in Planung", sagt Ainley. Darunter ist eine Zusammenstellung mit Aufnahmen aus Ostafrika - aus den 1930er-, 1940er- oder 1950er-Jahren. "Es ist sehr interessant zu verfolgen, wie sich die Musik verändert hat: Bei den Liedern aus den 50er-Jahren spürt man zum Beispiel den wachsenden Einfluss von amerikanischer Countrymusik, der auf die Verbreitung des Radios zurückzuführen ist", sagt Ainley. Gerüchte, das EMI-Archiv werde geschlossen, weil die Kosten zu hoch seien, bezeichnet Ainley als falsch. Hintergrund: Die EMI gehört zwar der Private-Equity-Gesellschaft Terra Firma, aber das Archiv ist in den Händen einer Stiftung, die gegründet wurde, "um zu verhindern, dass etwas, das so wertvoll ist für die Kulturgeschichte vieler Länder, auf dem Müll landet oder verramscht wird".

Im Pressetext zu der Zusammenstellung irakischer Musik aus den 20er-Jahren fand sich 2008 die Formulierung: "Manches klingt wie ein Mix aus dem späten John Coltrane und Sun Ra." Das liest sich auf den ersten Blick irritierend, aber Ainley sagt, er bekomme bei seiner Forschungsarbeit oft den Eindruck, dass die Musik wie etwas klingt, das erst Jahrzehnte später in einem ganz anderen Teil der Welt in einem anderen Kontext aufgetaucht ist. "Open Strings", eine demnächst erscheinende Platte mit weiterem Material aus dem EMI-Archiv, sei ebenfalls ein Beispiel dafür: "Das ist Instrumentalmusik aus dem Nahen Osten der 1920er-Jahre. Natürlich merkt man anhand der Soundqualität, wie alt die Platten sind. Aber abgesehen davon klingen die Aufnahmen teilweise modern, psychedelisch, avantgardistisch.

Wenn jemand am Anfang eines Stücks eine Note spielt und dann wartet, bis sie verhallt, ehe er die nächste Note spielt, ist das bei einer Gesamtdauer von drei Minuten ziemlich wagemutig." Dass all diese Aufnahmen vorher niemand entdeckt hat, liegt unter anderem daran, dass der EMI-Vorgänger Gramophone Company die Platten nur auf den jeweiligen nationalen Märkten, also etwa im Irak, veröffentlichte oder sie für kleine Firmen vor Ort presste. In London verblieb lediglich ein Exemplar, das man ins Archiv stellte. "Die meisten Platten waren praktisch unberührt, als wir sie entdeckt haben. Nachdem sie damals ins Regal gestellt wurden, hat sie sich niemals wieder jemand angehört", sagt Ainley. Auf die Frage, wohin seine nächste große Reise geht, antwortet er: "vielleicht nach Syrien". "Wir wollen aber auch eine Platte in Timbuktu aufnehmen."

Aktuelle Veröffentlichungen: Candi Staton: "Whos Hurting Now?", Diverse: "Boogaloo Pow Wow. Dancefloor Rendez-Vous in Young Nuyorica", Diverse: "Marvellous Boy - Calypso from West Africa", Diverse: "Open Strings. 1920s Middle Eastern Recordings/New Responses" (alle Alben im Vertrieb von Indigo)

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