■ Mumifiziert im Bundestag: Quo vadis, Politikverdrossenheit?: „Enthaltungen waren normal“
Schon wieder ein gräßlicher Leichenfund! Diesmal aber nicht in Hamburg, wo in der letzten Woche gleich zwei Männer entdeckt wurden, die zum Teil jahrelang in ihren Wohnungen herumgegammelt hatten, diesmal ist alles noch schlimmer: Der Fundort liegt im Herzen der Demokratie.
Nach Polizeiangaben fand gestern morgen ein Saaldiener auf dem Sitzplatz 422 in der Ostkurve des Bonner Parlamentssaals einen ehemaligen FDP-Abgeordneten. Die völlig verweste Leiche lag zusammengesunken unter einem meterhohen Stapel von Mitgliederbeitragsmahnungen und Dringlichkeitsanträgen. Die Todesursache ist noch unklar; womöglich kann sie überhaupt nicht mehr festgestellt werden.
Die Überprüfung älterer Bundestagshandbücher legt nahe, daß es sich um den Abgeordneten Johann Petzner aus Tiefenbach (Bayern) handelt, der dem Bundestag seit 1976 angehörte. Wie er dorthin gelangte, wird derzeit noch untersucht. Man vermutet aber, daß ein sogenannter „sicherer Platz auf einer Landesliste“ dahintersteckt.
Nachdem Petzner aber 1994 den Wiedereinzug ins Parlament nicht schaffte, muß seine Leiche seit mindestens vier Jahren in der FDP-Hinterbank geruht haben. Eine volle Legislaturperiode nahm der wortkarge Liberale an ausnahmslos allen Sitzungen des 13. Deutschen Bundestages teil. „Das ist ein Rekord, auf den wir stolz sind, der uns aber auch nachdenklich macht“, erklärte Guido Westerwelle („F.D.P.“) gestern nachmittag auf telefonische Anfrage in der Abgeordnetensauna.
Völlig erschüttert reagierte die FDP-Abgeordnete Gisela Frick, die jahrelang neben dem sichtlich angeschlagenen Parlamentarier in einer Abgeordnetenbank gesessen hatte. „Es ist doch Wahnsinn, daß man so voneinander entfremdet lebt, obwohl man der gleichen Partei angehört.“
Daß Petzner weder durch Zwischenrufe noch bei Abstimmungen auffiel, war für Frick kein Indiz – aus einer Stimmenthaltung könne man schließlich „niemandem einen Strick drehen“. Auch der unerträgliche Verwesungsgeruch habe sie nicht verunsichert. „Ich dachte immer, das ist der Lambsdorff, der saß ja direkt vor mir.“
Nun herrschen Räselraten und Aufregung in der kleinen Bonner Parlamentariergemeinde. Seit dem schrecklichen Fund ist der Zusammenhalt in den Parteien gewachsen. SPD-Fraktionschef Peter Struck zeigt sich regelrecht erleichtert: „Ich habe bei uns sofort durchzählen lassen – sind alle noch da!“
Die langjährige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, die die Sitzungen mit Petzner leitete, weist jede Verantwortung entschieden von sich. „Für ihre politische Arbeit ist jede Fraktion selbst verantwortlich“, schnarrt sie hinter ihrem Brillendrahtverhau hervor, „außerdem sind viele Sitzungen derart schlecht besucht, da ist man über jeden Anwesenden froh, ganz gleich, in welchem Zustand er sich befindet.“
Auch Süssmuths Nachfolger Wolfgang Thierse kann kein Rasierwässerchen trüben („Mir kam der Mann gleich verdächtig vor“), unternehmen wollte der amtierende Bundestagspräsident aber noch nichts. Und spätestens beim Umzug nach Berlin, lacht Thierse, „wäre der Mann ja aufgeflogen“. Oliver Maria Schmitt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen