Mumienfunde in Peru: Der Schatz vom Kondorsee
Die Toten der Chachapoya in den peruanischen Anden waren ein Sensationsfund. Der Weg dorthin führt durch Matsch, Dschungel und über Gipfel.
Als wir uns auf den Weg zur Laguna de los Cóndores machen, regnet es in Strömen. Es regnet schon seit zwei Nächten und einem Tag, doch in den Nebelwäldern an der Ostseite der Anden regnet es immer mal, selbst in der Trockenzeit. Jetzt im Juli ist Trockenzeit und wir können darauf hoffen, dass sich nicht der ganze Weg in knietiefen Matsch verwandelt hat und es auch wieder aufhört zu regnen.
Über diesen Weg sind damals Peter Lerche, Javier Farje und die Männer von Leymebamba gezogen, um den Schatz vom Kondorsee zu bergen. Mumien der Chachapoya, den Nebelkriegern der Anden, die nicht einmal die Inka bezwingen konnten. Kuhhirten hatten die Mumien und Grabbeigaben von der Laguna de los Cóndores 1996 entdeckt. Seitdem gelten die Gräber als eine der bedeutendsten Entdeckungen Perus nach Machu Picchu. Und ihr Fundort in den Bergnebelwäldern gehört noch heute zu den sagenhaften Orten Perus.
Erin aus Leymebamba führt uns, er hat seinen Neffen Daniel als Helfer mitgebracht, außerdem drei Pferde für die Gringos und eins für das Gepäck. Erin und Daniel gehen die 40 Kilometer vom Dorf Leymebamba zur Laguna de los Cóndores zu Fuß. Morgens um sieben traben wir los, die Männer laufen, holen uns an jeder Steigung ein und springen vor uns in Gummistiefeln den Berg hoch. Wir verlassen das Tal von Leymebamba, reiten entlang von Steinmauern durch die Felder, überqueren den Fluss, steigen höher, erreichen die Almen und schließlich die Ausläufer des Waldes.
Die kräftigen Pferde steigen schnaubend und stetig, stapfen durch den Lehm und über die Holzbalken, die teils morsch, teils ausgebessert und fest sind und an den besonders nassen Stellen durch den Wald wie ein unfertiger Bahndamm auf dem Weg liegen.
Anreise: Die Laguna de los Cóndores liegt in der Region Chachapoyas im Norden Perus. Von der Provinzhauptstadt Chachapoyas fahren mehrmals täglich Minibusse nach Leymebamba. Dort beginnen die Exkursionen zum Kondorsee. Aus Westen, also vom Pazifik, können Reisende seit 2014 über die frisch asphaltierte Strecke von Cajamarca nach Leymebamba gelangen. Starke Nerven sind unbedingt erforderlich.
Unterkunft: Leymebamba ist ein traditionelles Dorf, die Menschen leben von der Landwirtschaft. Eine Frauenkooperative verkauft am Hauptplatz schöne Tücher und Taschen. Bestes Hotel in Leymebamba ist "La Casona", das Señor Julio Meier mit seiner Schwester Nelly im alten Familiensitz betreiben. Sie kochen hervorragend und vermitteln die Reitführer zum Kondorsee. www.casonadeleymebamba.com
Achtung: Für den Ritt zum Kondorsee brauchen Sie eine sehr gute Kondition, der Weg ist beschwerlich.
Alternative: Wem der 3-tägige Marsch zur Laguna de los Cóndores zu anstrengend ist, kann in Leymebamba die Mumien und Ausgrabungsfunde vom See im Centro Mallqui sehen. Eines der besten Museen Perus, sehr schön gelegen: www.museoleymebamba.org. Gegenüber: Ein Café mit Ökoanbau im Garten von Adriana von Hagen mit selbst gebackenen Kuchen - und Kolibris. (ufo)
Schritt für Schritt erklimmen wir die Andenkordillere, haben lange schon die letzten Gehöfte und Almhütten hinter uns gelassen. Die kleinen muskulösen Pferde sind nun schon 1.300 Höhenmeter gestiegen. Sie sind eine besondere Rasse, die die Menschen im Laufe der Jahrhunderte aus den Andalusier-Arabern der Spanier gezüchtet haben. Auf dem Rücken dieser Pferde haben die Leute von Leymebamba in früheren Zeiten Salz aus einer Mine in der Nähe der Stadt Chachapoyas über die Berge geholt und in Leymebamba getauscht.
Heute schleppen die Pferde Kartoffeln in 50 Kilo-Säcken von den Terrassenfeldern hinunter in den Ort. Nach fünf Stunden erreichen wir eine Hochebene, die am Himmel zu kleben scheint. Regenschauer fegen darüber hinweg. Wenn die Wolken den Blick frei geben, reicht die Ebene bis zum Horizont, mal Hochmoor mit schwarz glänzenden Tümpeln, mal Karstgestein, porös und von aufgerissenen Löchern durchzogen, die sich plötzlich vor einem auftun und groß genug sind, dass ein Pferd samt Reiterin darin verschwinden könnten.
Durch Matsch und Schlamm
Wir traben über das Gras zwischen den Karstlöchern hindurch und erreichen den Anstieg zum Pass schneller als geahnt. Die Pferde steigen über Steine und Geröll, finden wie Steinböcke mit ihren Hufen Halt auf Felsgraten, klettern glatte Wände auf schmalen Stufen hoch und trotzen dem Wind und dem Regen, der hier oben auf 3.600 Metern Höhe eisig ist. Wir sitzen ab und für einen kurzen Moment schwinden mir die Sinne und der Atem, die Höhe würgt mich. Die seltsame Höhenkrankheit packt mich für einige Minuten und lässt mich glücklicherweise so schnell wie sie kam wieder los.
Über den Pass von 3.900 Metern gehen wir zu Fuß, sehen in den Wolken kaum die Hand vor Augen und ich bin erleichtert, als der Weg wieder abwärts führt. Der Matsch wird weicher, wird Schlamm und schließlich verwandelt sich der Weg in ein Bachbett, mit Pfützen und Tümpeln, in denen die Pferde bis zum Bauch versinken. Ich frage mich, wie eigentlich die Konquistadoren auf die Idee gekommen sind per Pferd über die Anden zu ziehen, wo sie noch nicht einmal wussten, was sie auf der anderen Seite der Berge erwartet. Mir hat Erin immerhin eine Hütte und eine warme Suppe versprochen
Wir sitzen ab, wir sitzen auf, wir sitzen ab. Beim Gehen sinke ich bis zum Knie in den zähen Matsch, verliere meinen Gummistiefel im Schlamm und Erin zieht ihn mit jahrelang geübtem Geschick wieder heraus und lässt mich aufsitzen. „Caballito es fuerte“, sagt er zwischen dem Pfriem aus Cocablättern in seiner Wange und meint, dass das Pferdchen stärker ist als ich und mich durch den Schlamm tragen kann. Ich füge mich unter das Regencape auf dem Sattel und als ich den nicht endenden Regen als unausweichlich akzeptiert habe, lichtet sich der Wald. Aus den freien Stellen im Urwald tauchen braune Kühe auf. Und dann erscheinen ein weites Tal und eine Hütte. Im Gästebuch trage ich ein, dass ich Gast Nr. 48 bin.
Die Hütte aus groben Holzbalken und das Land gehören Julio Ullilén. Er kam in den 1970er Jahren nach Leymebamba und schlug sich 1978/79 mit der Machete zur Laguna de los Cóndores durch, erzählt Javier Farje, nach unserer Rückkehr im Dorf. „El Señor Ullilén“ sagt Javier Farje, so wie alle in Leymebamba und in Chachapoyas den Mann nur kurz bei seinem Namen Señor Ullilén nennen, um dann zu verstummen und kein weiteres Wort über ihn, seine Landnahme oder seine Beteiligung am Fund der Mumien vom Kondorsee zu sagen.
Julio Ullilén sieht mit seinen kurzen Haaren und dem akkurat geschnittenen schmalen Schnurrbart in einem asketischen Gesicht noch immer aus wie der Polizeioffizier, der er einmal war. Ullilén hat den Weg frei gehauen und den Wald im Tal der Laguna de los Cóndores gerodet, um Wiesen für seine Rinder zu schaffen. In Peru ist das vollkommen üblich: Wer Land braucht, nimmt sich welches und sieht zu, dass er es behält.
Als die Plünderer kamen
Im Jahr 1996 sehen Kuhhirten im Dienste von Ullilén bei Arbeiten auf der Kuppe der östlichen Uferböschung, dass die Steilwand auf der gegenüberliegenden Seeseite plötzlich als hellgelber Fels in der Morgensonne leuchtet. Ein Vorhang aus Pflanzen hatte bislang die Sicht auf die Felsen verborgen, nun hatte ein Sturm die Pflanzen abgerissen und den Blick auf Gebäude in einer Felsnische freigegeben. Die Arbeiter schlagen sich einen Weg am Ufer frei, gelangen an den Fuß der Felsen und klettern durch den Dschungel den Berg hinauf, bis sie zu sieben Lehmbauten in einem Felsvorsprung gelangen.
Was sie dort finden, übersteigt ihr geistiges Fassungsvermögen: Mumienpakete sind dicht an dicht in die Häuser gepackt, Hunderte kauernde Tote, in Stoffe gewickelt und mit Pflanzenschnüren ordentlich zu einem Bündel verschnürt. Auf der Suche nach Gold schlagen die Hirten mit den Macheten ein paar Mumien entzwei, finden aber nur Knochen und „Quipus“, die Knotenschnüre der Inka. Die Quipus nehmen sie mit, sie sammeln noch Tonschalen und Stoffstücke ein – dann klettern die Plünderer hinunter zum See.
Noch 18 Jahre nach ihrer Entdeckung strahlt die Felsennische 150 Meter oberhalb des Sees etwas Erhabenes aus. Die Mumien ruhen mittlerweile in einer klimatisierten Kammer im extra dafür errichteten Museum von Leymebamba. Ein paar Schädel liegen noch auf einer Bank vor einer der Grabkammern, der eine hat merkwürdigerweise blonde Haare, aber vielleicht hat die Zeit die Haare gebleicht. Ein Mensch mit nach oben ausgestreckten Armen und breiten Beinen ist in roter Farbe auf den Felsen gemalt. Ein rotes Tier wie ein Hund und ein Skorpion bewachen einen Eingang, an andere Stelle kringelt sich auf dem Felsen eine Schnecke.
An einer hinteren Wand ist eine an eine Clownmaske erinnernde Figur verewigt und Tiere, die sich keiner bekannten Art zuordnen lassen. Die Lehmbauten sind mit den für die Chachapoya typischen Zickzacklinien versehen, aus Lehm geformt und mit roter Farbe bemalt. Über einer Türöffnung streckt ein eingemauertes Hirschgeweih drei Enden gen Himmel. Ein feiner Schleier aus Tropfen trennt die Felsnische von dem nassen Klima des Bergnebelwalds und schafft damit ein kleinklimatisches Wunder. Obwohl es die vergangenen zwei Tage geregnet hat, sind der Boden und die Lehmbauten vollkommen trocken. Ein idealer Ort, den die Chachapoya für ihre Toten fanden.
Die Felsnische zeigt gen Osten, die Toten haben in die Morgensonne geblickt und jeden Tag den Aufstieg der Sonne erlebt. Ja erlebt, denn in der Vorstellungswelt der Chachapoya haben die verstorbenen Vorfahren auf der Westseite des Sees ein neues Leben gefunden. Die im realen Nebelwald lebenden Chachapoya haben auf der Ostseite des Sees mit Blick auf die Steilwand im Westen gesiedelt, ungefähr dort, von wo die Hirten die Gräber entdeckten. Sie kommen öfters, stöbern durch die Mumien und die Grabbeigaben, nehmen jedes Mal etwas mit, ohne zu begreifen, was sie anrichten und verkaufen ihre Funde. Der kleine Geldsegen und die Kunde von den Mumien sprechen sich alsbald in Leymebamba herum und Julio Ullilén beansprucht beides. Schließlich hätten seine Arbeiter auf seinem Grund die Mumien gefunden, also gehöre alles ihm.
Er nimmt den Arbeitern die Sachen ab, woraufhin sie ihn im April 1997 verklagen. Die Staatsanwaltschaft in Chachapoyas kann sich keinen rechten Reim auf die Geschichte machen und beauftragt schließlich den in Deutschland geborenen Altamerikanisten Peter Lerche damit, die Gräber in der Steilwand über der Laguna de los Cóndores zu untersuchen und alles zu dokumentieren. Peter Lerche lebt seit den 1980er Jahren in der Region, hat etliche Siedlungen, Wege und Gräber der Chachapoya rund um die Festung Kuélap entdeckt und gilt als einer der besten Kenner der Chachapoya-Kultur. Die Nachricht von den Mumien ist mittlerweile auch bis ins Instituto Nacional de Cultura von Lima und in die Zeitungen vorgedrungen.
Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis Fernsehteams und weitere Grabräuber unterwegs zur Laguna de los Cóndores sind. Peter Lerche und seine Begleiter kommen gerade noch rechtzeitig. Etliche der 219 Mumienbündel waren aufgeschlitzt und lagen kreuz und quer in den Felsnischen, erzählt Peter Lerche bei Steak und Mangosaft in Chachapoyas. Keramik war zerstört, Stoffe zerrissen, Schädel und Kalebassen mit Chachapoya-Motiven lagen auf dem Felsvorsprung herum.
Die archäologische Rettungsaktion
„Die Chachapoya waren große Weber“, sagt Peter Lerche. „Die Räuber haben die Stoffe und die Mumien aufgeschnitten und damit riesige Werte vernichtet.“ Und dennoch ist der Fund auch nach der begonnenen Plünderung immens. Lerche findet 32 Quipus, also die Knotenschnüre, mit denen die Inka die Saat, Ernte und Waren im Lager zählten. Die Quipus zeugen davon, dass die Inka auch nach der Unterwerfung der Chachapoya die Grabnischen genutzt haben. Und die 32 Quipus von der Laguna de los Cóndores sind die einzigen Knotenschnüre mit Herkunftsnachweis, sagt Peter Lerche. Von den anderen 820 Quipus, die in den Museen der Welt liegen, weiß niemand, woher sie stammen.
Peter Lerche dokumentiert die Mumien und Grabbeigaben, fotografiert die Chullpas, die Grabnischen, und kehrt zurück nach Chachapoyas. Sein Bericht löst eine archäologische Rettungsaktion aus, die ihresgleichen sucht. Die peruanische Archäologin Sonia Guillén stellt im Auftrag der Regierung eine Mannschaft von Archäologen zusammen, zu denen auch Peter Lerche gehört. Die gut vernetzte Adriana von Hagen, Tochter des schillernden Südamerika-Autors Viktor von Hagen und Freundin von Sonia Guillén, hängt sich ebenfalls ein in die Rettung der Mumien und danach in den Aufbau des Museums.
Als Spezialist für uralte Mumien kommt der Österreicher Horst Seidler hinzu, der mit seinem Team an der Universität Wien den im Eis gefunden Steinzeitmann Ötzi untersucht hatte. Die Regierung von Österreich wird schließlich 800.000 Euro für den Bau des Museums in Leymebamba spenden.
Doch das dauert noch, denn zunächst müssen die Retter des Schatzes vom Kondorsee den Weg über die Anden durch den Nebelwald nehmen, mit dem Boot über den See setzen, 150 Meter durch den an der Steilwand wachsenden Wald hinaufsteigen und einen Weg ebnen, auf dem sie 219 Mumienbündel samt Grabbeigaben heil durch den Dschungel bringen. Javier Farje und ein Großteil der Männer von Leymebamba arbeiten mit. Sie schlagen ein Camp am Seeufer auf und schaffen Zelte, Lebensmittel, Planen, Seile, Decken und die gesamte Ausrüstung der Archäologen dorthin. Hinzukommen die Kisten für den Transport der Mumien, Styropor und Noppenfolie, damit die einzigartige Fracht unversehrt aus der Wildnis in die Zivilisation gelangt.
400 Pferde seien im Einsatz gewesen, erzählt Javier Farje, der damals 46 Jahre alt war. Die Karawanen seien ständig hin- und hergezogen, mit den Pferden und den ersten Mumien haben sie einen Rundgang über den Hauptplatz von Leymebamba gemacht. „Es war historisch“, sagt Javier Farje und seine Augen leuchten. Dabei mussten sie sich beeilen. Im August 1997 fingen sie mit der Rettungsaktion an, spätestens ab November hätte die Regenzeit begonnen und das Projekt vermutlich gestoppt. Ende Oktober kam die letzte Fracht in Leymebamba an.
Noch während Peter Lerche und die anderen Archäologen auf den Bretterkonstruktionen in der Steilwand über dem Kondorsee hängen und bäuchlings die Mumienbündel aus den Gräbern ziehen, beginnt der Streit, was mit dem Schatz vom Kondorsee passieren soll. „Una guerra de investigadores“, nennt Javier Farje die Querelen heute, „einen Krieg der Forscher“. Denn natürlich wollen die einen den Schatz nach Lima holen, die anderen nach Chachapoyas.
„Wir haben ihnen dann klargemacht, dass die Sachen hier bleiben“, sagt Farje mit schmalen Lippen und hält die Hände gekreuzt auf dem Tisch. Er möchte nicht weiter ins Detail gehen. Jedenfalls steht heute am Ortsrand von Leymebamba in der Calle Austria das Centro Mallqui, das zu den besten und schönsten Museen Perus gehört. Sonia Guillén und Adriana von Hagen leiten das Museum, das als anerkannter Verein den Bewohnern des Dorfes gehört. In einer klimatisierten Kammer haben die 219 Mumien vom Kondorsee dort ihre letzte Ruhestätte gefunden, umgeben von Töpfen, Kalebassen, Quipus und Tierfiguren, die ihre Zeitgenossen ihnen einst mit auf den Weg gaben.