Multikulti: Muslim ja - Bürger nein
Seit Neuestem sieht sich die Union aufgeschlossen für Multikulti. Doch Kultur heißt für sie Religion. Das Ziel ihrer neuen Integrationspolitik - nicht der Imbiss, sondern die Moschee.
S eit Beginn der großen Koalition hat man in den Kreisen der CDU mit beträchtlicher Energie auf alles eingeschlagen, was auch nur im Entferntesten mit dem Begriff Multikultur in Verbindung stand. Doch je mehr die Union ihre Vorstellungen vom "Integrationsland" ausschmückt, desto deutlicher wird: Sie entwickelt ihren eigenen Multikulturalismus. Im neuen Grundsatzprogramm wurde festgehalten, dass Deutschland "aufgeschlossen ist für die Begegnung mit anderen Kulturen". "Legale Migration", heißt es weiter, bedeute "vor allem auch Bereicherung". Ihre Talente sollen die Einwanderer entfalten dürfen, um "unser Land geistig, kulturell und sozial befruchten und voranbringen zu können". Nun ist dem "Multikulti" der 1980er Jahre oft vorgeworfen worden, dass sein unausgesprochenes Zentrum das Restaurant oder die Imbissbude war - ein Ort also, wo man ein an die kulinarischen Bedürfnisse der Mehrheit angepasstes Produkt mit verdaulichem Fremdheitsappeal konsumieren konnte. Das Zentrum des neuen Unions-Multikulti hat jedoch mit käuflichen Genüssen nichts zu schaffen, sondern vielmehr mit ideeller Unterstützung und geistigem Halt: Es ist die Kirche, genauer gesagt: die Moschee.
Moscheen sprießen derzeit nur so aus dem Boden. Groß und repräsentativ dürfen, ja müssen sie sein, denn sie sollen, wie Navid Kermani kürzlich schrieb, Symbole werden dafür, "dass die Muslime heimisch wurden und als heimisch galten, mit einer Initiative des damaligen Innenministers, ausgerechnet eines Christdemokraten". Tatsächlich täuschen die Proteste vom rechten Rand, von senilen Schriftstellern und von professionellen "Islamkritikerinnen" darüber hinweg, dass die Religion als Ticket zur "Integration" politisch beschlossene Sache ist. Und neben der verbreiteten Angst vor "dem Islam" gibt es eine ebenso weit verbreitete Anerkennung von religiösen Bedürfnissen. Der "Tag der offenen Moschee", der in vielen Städten jährlich stattfindet, bricht ständig neue Besucherrekorde. Und in Köln wurde im Zusammenhang mit dem Moscheebau oft mit einem Schulterzucken vermerkt: "Die Leute müssen ja irgendwo beten." Das leuchtet sogar in der bayerischen Provinz ein.
Für die Union hat das Herausstreichen des Islam noch einen weiteren Vorteil. Denn diese Aufwertung des Religiösen bietet die Möglichkeit, den zunehmenden Relevanzverlust der christlichen Kirchen symbolisch aufzuhalten. Während man den Moscheebau fördert, wird zugleich die christliche Hoheit über die öffentliche Sphäre mit allen Mitteln behauptet. Als der nordrhein-westfälische Landtag ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen beschloss, während Kippa und Nonnenhaube erlaubt blieben, da gaben die Regierungsparteien als Begründung an: Nur das Kopftuch entspreche nicht den jüdisch-christlichen Bildungs- und Kulturwerten "unseres Landes". Zudem erhob das Gesetz die Vorurteile der einheimischen Bevölkerung quasi in Verfassungsrang. Denn nicht das Kopftuch per se gilt in NRW als verfassungsfeindlich. Verboten wird es, weil ein Schüler oder ein Elternteil denken könnte, dass die Verhüllung des Haares ein Zeichen gegen Freiheit und Demokratie sei.
Auf ganz Deutschland übertragen lässt sich daraus folgendes Modell ableiten: Die Bundesrepublik ist ein christliches Land, das "fremde" Religionen zulässt - im Rahmen des bescheidenen Anspruchs, dass Leute "ja irgendwo beten müssen". Bei der Realisierung dieses Modells werden neue Gruppen geschaffen. Wie oft hat man in den Medien gehört, dass in Deutschland "etwa zwei bis drei Millionen" Muslime leben? Nun ist bekannt, dass nicht einmal 20 Prozent "der Muslime" hierzulande organisiert sind - alle anderen werden, selbst wenn sie strikte Atheisten sind, einfach zu Muslimen erklärt. Im Umkehrschluss mutieren die anderen 80 Millionen Menschen zu Christen in einem christlichen Land. Am Multikulturalismus der 1980er-Jahre ist kritisiert worden, dass er alle Einwohner des Landes letztlich zu Repräsentanten ihrer Kultur erklärte - und das, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, die sich in einem fortgesetzten Prozess der Enttraditionalisierung befindet. Im Unionskonzept werden wir nun alle zu Vertretern "unserer" Religion, was mindestens ebenso weltfremd ist, denn entgegen dem Eindruck, den allerlei Megaevents zwischen Papstbesuch und evangelischem Kirchentag hinterlassen sowie den wiederholten Behauptungen von einem Revival der Religion, ist die Zahl der Kirchenschließungen aufgrund von Besuchermangel unvermindert hoch.
Nun hat der herkömmliche Multikulturalismus zumindest in der Theorie gefordert, dass am Anfang der Gestaltung von so etwas wie Einwanderungsgesellschaft die Möglichkeit der Partizipation stehen muss: Von Heiner Geißler bis Daniel Cohn-Bendit war man sich einig, dass die Einbürgerung deutlich erleichtert werden müsse. Von solcher Liberalität kann bei der Union allerdings keine Rede sein. Im Grundsatzprogramm wird wieder einmal unterstrichen, dass im "Integrationsland" die "Verwirklichung gleichberechtigter Teilhabe mit allen Rechten und Pflichten" ganz "am Ende des Integrationsprozesses" stehe. In diesem Sinne werden derzeit auch die Möglichkeiten der Anspruchseinbürgerung konsequent eingeschränkt: Als Kandidat muss man mit festem Einkommen, ausreichend Wohnraum, Einzahlungen in die Rentenkassen und Regelanfrage beim Verfassungsschutz unterdessen so ungeheuer "normal" daherkommen; so "integriert" wie es heutzutage niemand unter 30 mehr sein kann.
"Integriert" wird man daher primär als "Muslim" und nicht etwa als Bürger. Dabei rutschen alle anderen Gruppen und Probleme unter den Tisch. Die Fokussierung auf "die Muslime" verhindert, dass viele Probleme auf der Agenda überhaupt auftauchen: Der extrem hohe Anteil von Schülern serbischer Herkunft auf der Sonderschule; die Bildungskatastrophe der Personen mit italienischem Hintergrund oder die unproportional hohe Arbeitslosigkeit der griechischen Einwanderer trotz guter Bildungsabschlüsse.
Das Thema Wirtschaft hat im Multikulturalismus noch nie eine Rolle gespielt. Die Vertreter der 1980er-Jahre gingen schlicht davon aus, dass der Arbeitsmarkt "farbenblind" sei - gerade im entfesselten Kapitalismus seien Aussehen und Herkunft egal. Freilich war der Arbeitsmarkt niemals so farbenblind wie von ihnen angenommen, denn gerade Einwanderer wurden (und werden) ja bewusst für Arbeiten angeworben, die unqualifiziert und schwer waren. Zudem gibt es auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch heute keinen entfesselten Kapitalismus. Während Großbritannien in der Ära Blair tatsächlich konsequent alle Formen der Diskriminierung abgeschafft hat, existiert in Deutschland ein ganzes Arsenal von Hürden: Die Nicht-Anerkennung von Bildungsabschlüssen aus dem Herkunftsland, das "Inländerprimat" auf dem Arbeitsmarkt, aufenthaltsrechtliche Probleme usw. usf.
Im "Integrationsland" wird sich diese Mischung aus Verleugnung und Protektion wohl fortsetzen. Ein Blick auf die Vorhaben für den "nationalen Integrationsplan" zeigt, dass da für den Bereich der Wirtschaft wenig mehr vorgesehen ist als die "Entwicklung neuer Strategien", das "Werben für Chancen" oder den "Einsatz für Gleichbehandlung". Diese Tatenlosigkeit wird übertüncht und abgefedert durch den renovierten Multikulturalismus. Schließlich ist die Religion nicht nur "Opium" für jene, denen andere Möglichkeiten des Aufstiegs verwehrt bleiben, sondern religiöse Vereinigungen bieten auch handfeste, zivilgesellschaftliche Unterstützungsstrukturen - gerade wenn es ökonomisch knapp wird. Die CDU-Tiraden gegen "Multikulti" wirken in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen mehr als abgeschmackt. Absurd wird es, wenn wie vor kurzem die Integrationsbeauftragte den Nachbarn aus Großbritannien eine Abkehr vom Multikulturalismus ins Stammbuch schreiben will und ihnen stattdessen das deutsche Modell von Integration andient. Gerade dort hat man schmerzlich begreifen müssen, welch brisante Mischung entstehen kann, wenn sich die amtliche Akzeptanz und rhetorische Betonung religiöser Differenz paart mit fortgesetzter Diskriminierung und wirtschaftlicher Ausgrenzung im wirklichen Leben. Deshalb zielt die Schulbildung dort nicht nur konsequent auf mehr Chancengleichheit, sondern mit der Einführung des Faches "citizenship" auch auf mehr Partizipation von Bürgern unterschiedlicher Herkunft - und nicht bloß auf das Zusammenleben von Kulturen und Religionen.
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