: Mütter spielen Känguruh
■ Klinik für Frühgeborene im St. Jürgen-Krankenhaus setzen auf sanfte Medizin
Die grüne Linie auf dem schwarzen Herz- und Atemmonitor schlägt unruhig spitze Zacken, links daneben zeigt eine Ziffer auf dem Bildschirm vier Prozent weniger Sauerstoff an, das maschinelle Beatmungsgerät piepst Alarm. Mutter Anna steht nervös neben dem medizinischen Gerätepark und hebt ein faltig-runzliges Wesen aus einem gläsernen Wärmekasten, das wie angekettet an Schnüren und Sonden hängt. Sanft preßt sie es an ihre nackte Brust. Die unruhige Herz- und Atemlinie pendelt sich ein, das alarmierende Piepen ist vorbei. Mutter Anna und Frühchen Janis schlummern sanft auf dem Liegestuhl neben dem leeren Wärmekasten ein.
„Modernste Technik und intensiver Elternkontakt gehen Hand in Hand“, sagt Chefarzt Klaus Albrecht von der Intensivstation für Frühgeborene stolz. „Das war nicht immer so“, weiß Albrecht, der jetzt das zehnjährige Jubiläum der sogenannten „Pädiatrischen Intensivmedizin“ in der St. Jürgen Klinik feiern darf. Dreißig Jahre Medizin für Frühgeborene - „das ist ein beeindruckendes Kapitel“, so der Mediziner.
Helles Licht flutet durch ein offenes Fenster in der Station. Gläserne Inkubatoren stehen an der Wand, Frühgeborene räkeln sich in bunten Decken, ein Plüschtier liegt daneben. Schläuche blubbern. Sieben Schwestern wuseln in grünen Kitteln durch den Raum, Türen stehen offen, Stimmengewirr dringt aus dem Frühstücksraum nach draußen.
„Total steril war es damals“, erinnert sich Schwester Monika Geiger an die Intensivstationen der 60er Jahre. Hinter dicken Glaswänden brüteten die Frühlinge hermetisch abgeriegeltin ihren Brutkästen. Nur zweimal pro Woche konnten sich Mütter an der Glasscheibe die Nase plattdrücken. „Da haben wir oft ein Auge zugedrückt und doch einige hineingelassen“, erinnert sie sich. Schwere Brutkästen standen da ordentlich in einer Reihe, jedes Frühgeborene war in sterile weiße Mützchen, Schals und weiße Kissen gehüllt. Äußerste Ruhe, kein Körperkontakt wegen gefährlicher Keime und so wenig Arztbesuche wie möglich, hieß damals die restriktive medizinische Devise. Die Angst vor gefährlichen Infektionen saß tief. Der medizinische Fortschritt ließ damals noch auf sich warten: Denn wer in der 24. Schwangerschaftswoche das Neonlicht der Krankenhauswelt erblickte, hatte kaum eine Überlebenschance: Moderne Beatmungsgeräte gab es in den 60er Jahren noch nicht. „Zu früh geboren“- das hieß zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Heute finden sechs Prozent der Geburten weltweit zu früh im Kreissaal statt. Davon wiegen bis zu zwei Prozent nur unter 1500 Gramm. Wichtige Organe wie Lunge, Darm und Magen sind nicht so entwickelt, daß die Kinder ohne Verbindung zur nährenden Mutter überlebensfähig sind.
Chefarzt Albrecht steht im blauen Kittel vor einem gläsernen Wärmekasten. „Juchhu. Heute wiege ich 1.100 Gramm“, haben die Kinderkrankenschwester stolz auf einen herzförmigen Button geschrieben, der auf dem Glas klebt. Ein plötzliches Piepsen schreckt ihn auf. Fünf Prozent zu wenig Sauerstoffgehalt im Blut zeigt das moderne Gerät an. Ein Knopfdruck von Albrecht und der Frühling atmet ruhig weiter. Erst Anfang der 70er Jahre konnte das erste Beatmungsgerät Frühgeborenen das Leben retten. Seitdem schritt der medizinische Fortschritt mächtig voran. Die Medizin setzte auf High-Tech: Moderne Blutanalysegeräte, die Entwicklung kleinster Kanülen für Venen und Arterienkatheter für Stoffwechsel und Nahrungsaufnahme wurden entwickelt. Neueste Elektronik wurde auf den Weg gebracht, um schonend statt pieksend den kleinen Patienten Blut abzunehmen und zu analysieren. Für Albrecht ein eindeutig meßbarer medizinischer Erfolg: Heute können auch kleinste Frühgeborene überleben.
„Aus eigener Kraft ins Leben“, das hatte vor zwei Jahren die in Fachkreisen zugleich verehrte und verhaßte österreichische Medizinerin Marina Marcovich gefordert. Der Wienerin wurde 1994 die fahrlässige Tötung 15 Neugeborener zur Last gelegt. Sie stellte den modernen High-Tech-Gläubigen sanfte psychologische Methoden entgegen. Als Ende der 80er Jahre das Mittel Surfactant auf den Markt kommt, das Lungenbläschen öffnet und so künstliche Beatmung möglich macht, schrie sie Alarm: Zwar konnten jetzt mehr Frühgeborene überleben. Doch nur mit schweren Lungen-, Hirn- und Augenschäden, behauptet die Medizinerin. „Horrogeschichten“, sagt Mutter Anna dazu, die ihr frühgeborenes Kind bald nach Hause nehmen darf. Schäden, die könnte auch ein gesundes Kind haben. Daß Marcovich durch weniger künstliche Beatmung und freies Füttern besser Erfolge habe, sei bisher nicht bewiesen. Auch der Bremer Mediziner Albrecht ist skeptisch: „Wir brauchen die Technik, um das Überleben überhaupt erst möglich zu machen.“ Das sogenannte „Känguruhn“, das Wiegen des Kindes auf der Brust, haben die Bremer jedoch aus Wien übernommen. „Wir merken immer wieder, daß neben der Medizin der Kontakt zu den Eltern genauso wichtig ist.“ In ein paar Tagen wird Anna ihr Kind mit nach Hause nehmen. Dann wird Janis die medizinischen Geräte nicht mehr nötig haben. „Wenn die Technik nicht wäre, hätte mein Sohn auf jeden Fall nicht überlebt.“
kat
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