Münkler über Gründungsmythen: "Vernunftrepublikaner sein reicht nicht"

Gerade in Krisenzeiten brauchen Demokratien Gründungserzählungen, die Sinn stiften. In Deutschland, so Politikwissenschaftler Herfried Münkler, gibt es diese Erzählungen nur bruchstückhaft.

Dem Mauerfall zum Trotz: In Deutschland fehlt der Mythos der liberalen Republik. Bild: dpa

HERFRIED MÜNKLER, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zuletzt ist er mit seinen Studien zur Theorie des Krieges hervorgetreten: "Die neuen Kriege" (2002), "Der neue Golfkrieg" (2003) und "Imperien" (2005).

Gerade ist sein neues Buch erschienen, mit dem er in der Kategorie Sachbuch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, der morgen vergeben wird: "Die Deutschen und ihre Mythen". Rowohlt Verlag, Berlin 2009. 608 Seiten, 24,90 €

taz: Herr Münkler, gibt es 2009 einen deutschen Nationalmythos?

Herfried Münkler: Eigentlich nicht. Fast alle politischen Mythen der Deutschen sind 1945 kaputtgegangen. Danach hat die DDR versucht, revolutionäre Nationalmythen wiederzubeleben. In der Bundesrepublik haben D-Mark und Wirtschaftswunder diese Rolle gespielt. Die DDR gibt es nicht mehr, die D-Mark auch nicht. Und der Berliner Republik ist es bislang nicht gelungen eine große, integrierende, politisch sinnstiftende Erzählung zu entfalten.

Braucht man die denn noch? Sind Mythen oder große nationale Erzählungen in postnationalen Einwanderungsgesellschaften nicht überflüssig?

Wenn die Wirtschaft wächst und Reform bedeutet, dass alle mehr bekommen - dann nicht. Aber für tief greifende Umbauten der Gesellschaft und Krisenbewältigungen sind sinngebend motivierende große Erzählungen nötig. Und die fehlen hierzulande. Das erklärt auch, warum die Deutschen so sehnsüchtig auf die USA schauen. Denn dort kann Obama den Leuten bittere Wahrheiten vor Augen führen, die auszusprechen sich kein deutscher Politiker trauen würde. Obama kann das, weil er gleichzeitig auf die Gründungserzählung der USA und den darin enthaltenen Optimismus zurückgreifen kann. Deshalb kann Obama sagen: Wir werden stärker aus der Krise herauskommen. Das zeigt, dass Gründungsmythen, die zeitweilig in den Hintergrund treten können, eine politische Funktion haben - nämlich dann, wenn es schwierig wird. Sie schaffen Zuversicht und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Problembewältigung.

Und die gibt es in Deutschland nicht?

Es gibt keine nationale Erzählung, die etwa dem entspricht, was die Revolution von 1789 für Frankreich ist. 1789 spielt im Alltagsleben und -bewusstsein der Franzosen keine große Rolle. Doch in bestimmten Krisensituationen ist 1789 eben doch abrufbar: ein Pathosreservoir, das nicht peinlich ist. Vergleichbares gibt es bei uns nicht. Und ich glaube nicht, wie Jürgen Habermas, dass wir ohne diesen Ballast endlich frei sind, deliberative Politik zu machen und eine partizipative Demokratie zu etablieren. Ich fürchte vielmehr, dass uns gerade in Krisenzeit der Mythos der liberalen Republik fehlt. Nur Vernunftrepublikaner zu sein reicht nicht. Da fehlt etwas: Herz und Gefühl.

Was tun? Glauben Sie denn, dass man nationale Mythen künstlich erschaffen kann?

Natürlich kann die Bundesregierung keinen Nationalmythos verordnen, und kein Autor kann willkürlich einen erfinden. Das entwickelt sich im Zusammenspiel von Kreativität, Aufnahmebereitschaft des Publikums und günstiger Gelegenheit. Im frühen 19. Jahrhundert gab es Autoren wie Wackenroder und Tieck, Brentano und von Arnim, die die Verzauberung und mythische Aufladung der Landschaften und Städte betrieben. Als Heine seine berühmten Verse über die Loreley dichtete, konnte er so tun, als sei dies ein "Märchen aus uralten Zeiten". Dabei hatte Brentano den Loreley-Mythos zwanzig Jahre zuvor erfunden. Will sagen: Mythen sind durchaus künstlich. Es sind Erfindungen, Erzählungen, Verdichtungen, die in bestimmten Situationen wirkmächtig werden.

Kürzlich machte die Schlacht am Teutoburger Wald, in der vor 2.000 Jahren Hermann der Cherusker die römischen Legionen besiegte, medial Furore. Es wurde sogar versucht, diese Schlacht als Geburt der Deutschen zu inszenieren. Kann das als - erfundener - Gründungsmythos funktionieren?

Heute nicht mehr. Anfang des 19. Jahrhunderts im Kampf gegen Napoleon sehr wohl. Aber sehen wir uns den Mythos genauer an: Wenn die Deutschen vor 2.000 Jahren entstanden, dann haben sie 1.500 Jahre lang davon nichts gewusst. Die Schriften des Tacitus sind erst im 15. Jahrhundert wiederentdeckt worden. Arminius hat als mythische Figur eine äußerst wechselvolle Geschichte hinter sich. Eine Weile bot es sich an, ihn als antiimperialen Kämpfer an die Seite Luthers zu stellen, vereint im Kampf gegen Rom. Karriere macht er während der antinapoleonischen Befreiungskriege im 19. Jahrhundert, als es einen Kaiser zu bekämpfen galt. Doch das Bismarckreich, das selbst Imperium werden wollte, konnte mit dem antiimperialen Hermann nicht viel anfangen. Genauso wenig wie die Nazis.

Warum hat die deutsche Vereinigung 1990 keine neuen, sinnstiftenden symbolischen Formen hervorgebracht?

Das liegt zum Teil daran, dass die Agenda der politische Elite und die des Volkes nicht zusammenpassten. Kohl machte den 3. Oktober zum Nationalfeiertag - damit inszenierte sich die politische Elite als wesentlicher Akteur. Auch die Linke hat ein gespaltenes Verhältnis zu 1989. Einerseits war die Bürgerbewegung die Antwort auf die notorische Melancholie der Linken, dass es in Deutschland noch nie eine erfolgreiche Revolution gegeben hat. Zugleich aber war der 9. November für die Linke die endgültige Demolierung eines Projekt, das sie so nicht mehr wollte, dem sie aber irgendwie doch verbunden war. Die Linke hat die demokratische Revolution nicht als ihr Projekt adoptiert, die politische Elite hat die Vereinigung nur gemanagt. Deshalb ist 1989 nicht zu einer neuen verbindlichen Erzählung geronnen.

Hätte eine Debatte um eine neue Verfassung - anstelle der schnöden Übernahme des Grundgesetzes - dies geändert?

Ich glaube nein. Der Zeitdruck war ja durchaus real.

Also ist 1989 als Gründungserzählung unbrauchbar?

Unbrauchbar nicht, aber sie ist es zurzeit nicht. Doch das kann sich ändern. Wir werden in diesem Herbst sehen, ob die Macht der Bilder vom Mauerfall mythische Kraft entfalten.

Kann es nicht sein, dass die Zeit nationaler Gründungsmythen einfach vorbei ist. Und dass sie längst von unverbindliche Wir-Inszenierungen ersetzt werden - zum Beispiel durch den Fun-Patriotismus bei der Fußball-WM 2006?

Die WM ist ein gutes Beispiel. 1954 fand mit dem 3:2 in Bern die zweite Gründung der Bundesrepublik statt. Dort zeigte die Nation symbolisch, dass sie siegen kann. Das war ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde. Das gab es 1974 und 1990, als Deutschland wieder Fußballweltmeister wurde, nicht mehr, weil das Problem, das 1954 bearbeitet worden war, so nicht mehr existierte. 2006 war die WM eher ein Beipackzettel für touristische Einladungen: ein nettes Land mit guter Stimmung und schönem Wetter. Das war hübscher Moment - aber nichts, von dem man auf Dauer zehren kann.

Trotzdem: Ist nicht das Spiel mit Identitätssymbolen die Zukunft? Entspricht das Unverbindliche einer temporären Gemeinschaft, einer individualisierten Gesellschaft viel eher als feste Erzählungen?

Das bezweifle ich. Die WM 2006 versteht man nur auf der Folie der Olympiade 1936 - nämlich als abermaligen Beweis, dass Deutschland ein offenes, ziviles Land geworden ist. Dieser Effekt speist sich also immer noch aus dem verblassenden Schrecken der NS-Zeit. Wenn man diesen Effekt abzieht, bleibt das reine Event. Diese bunte Eventkultur kann durchaus an die Stelle schwerer, schicksalhafter Erzählungen treten. Aber eben nur wenn die Sonne scheint und die Fortschrittserwartung uns Flügel verleiht. Wenn es echte Probleme zu lösen gilt, funktioniert das nicht.

In der Bundesrepublik haben die Debatten über die NS-Zeit die mythische Lücke gefüllt. Denn in dieser Reflexion wurde ja auch immer die Frage verhandelt, wer wir waren und sind. Sie enthielten also immer auch eine Gründungserzählung

Ja, aber in der Abgrenzung vom Negativen, von Auschwitz.

Hat diese Erzählung Zukunft - oder wird sie mit dem Verschwinden der Erlebnisgeneration selbst Vergangenheit?

Diese Erzählung wird es noch eine Weile geben. Das Interesse Hollywoods an der NS-Zeit ist dafür nur ein Indiz. Denn das Böse ist attraktiv. Aber als Orientierung für die Zukunft bringt diese Erzählung nicht viel. Außer: Passt auf, damit die Zukunft nicht in die Vergangenheit mündet.

Steckt da nicht auch der Imperativ "Schätzt die Demokratie und die Menschenrechte" darin? Und insofern eine positive Identifikation?

Vielleicht. Aber auch das setzt eben die dauernde Reinszenierung der Nazis voraus. Wir versichern uns des Himmels, indem wir immer wieder in die Hölle blicken. Das ist hoch ambivalent, weil die Hölle bekanntlich interessanter ist als der Himmel. Es ist nicht unproblematisch, seine Identität auf die Abgrenzung vom Faszinosum des Bösen zu stützen.

Herr Münkler, brauchen wir eigentlich Mythen - mal abgesehen davon, dass sie als Kitt bei Krisen nützlich sein könnten?

Wir bräuchten erst dann keine Mythen mehr, wenn die große Menschheitserzählung - die Rückkehr ins Paradies - Wirklichkeit würde. Solange wir nicht ins Paradies zurückgekehrt sind, müssen wir uns Mythen erzählen. Sie erklären uns, warum wir nicht zurückgekehrt sind. Und warum es hier trotzdem ganz schön ist. Und was die Herausforderungen sind, denen wir uns stellen müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.