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Archiv-Artikel

„Moskau hat Georgien verloren“

Der russische Politologe Fjodor Lukjanow über Russlands Verhältnis zur Nato, Moskaus selbstzerstörerischen Neoimperialismus sowie die fehlende außenpolitische Strategie

taz: Die Nato ist noch immer eines der wirksamsten Feindbilder in Russland. Woran liegt das?

Fjodor Lukjanow: Die Existenz der Nato signalisiert auch nach Ende des Kalten Krieges, dass Russland als Gegner wahrgenommen und als solcher gepflegt wird. Zudem hat der Krieg in Jugoslawien dem Ansehen des Bündnisses in der öffentlichen Meinung nachhaltig geschadet. Mit der Bombardierung einer europäischen Hauptstadt in Friedenszeiten wurde eine Grenze überschritten. Der Krieg hat die Probleme nicht gelöst, trug aber dazu bei, dass sich die Illusion einer friedlicheren Ära schnell verflüchtigte. Die Militärs sind zurück auf der internationalen Bühne.

Die Nato-Tagung findet in Lettland und damit in einer ehemaligen Sowjetrepublik statt. Georgien und die Ukraine werden als neue Aufnahmekandidaten genannt. Fühlt sich Moskau da nicht provoziert?

Der aktuelle Konflikt mit Georgien ist bereits eine Reaktion auf die georgischen Nato-Avancen. Der Kreml ist erbost. Doch das ist noch nichts im Vergleich zu einer potenziellen Mitgliedschaft der Ukraine. Im Frühjahr war Moskau sehr nervös und fürchtete, bereits in Riga würde darüber entschieden.

Schon die Maßnahmen gegen Georgien – und Georgier in Russland – waren irrational. Moskau hat sich damit selbst geschadet. Wird der Kreml im Falle eines ukrainischen Beitritts noch wütender um sich schlagen?

Bevölkerung und regierende Parteien in Kiew sind gegen einen Nato-Beitritt. Das Thema ist verschoben, aber nicht aufgehoben. Ein Beitritt der Ukraine würde den westorientierten Kräften bei uns endgültig das Wasser abgraben. Historisch wird die Ukraine als Teil unseres Landes, der russischen Kultur gesehen. Die Annahme im Westen, Moskau werde auf die Mitgliedschaft der Ukraine so gelassen reagieren wie auf die Polens oder des Baltikums, ist ein gefährlicher Trugschluss. Polen war immer ein Rivale, das Baltikum blieb uns fremd. Die Strategen im Westen sollten das berücksichtigen.

Die Nato ist in der russischen Öffentlichkeit die Inkarnation des Bösen. Für wirklich bedrohlich scheint die politische Führung das Bündnis jedoch nicht zu halten. Ist das nicht alles nur Theater?

Nicht nur. Obwohl zurzeit keine Gefahr für den Frieden besteht, erweitert sich die Allianz und sammelt ein, was sie rings um Russland findet. Wie sollen russische Militärs damit umgehen? Da die Nato ihre ursprüngliche Mission verloren und noch keine neue entworfen hat, verharrt sie in der Logik des Kalten Krieges. Außerdem: Neue Mitglieder erhöhen nicht automatisch die Schlag- und Kriegsfähigkeit des Bündnisses. Manpower brächte nur die Ukraine ein, ansonsten gleicht das Unternehmen eher einer Art exklusiver Klubmitgliedschaft.

Reift die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) langsam zu einer Gegen-Nato heran? Neben Russland, China und Indien gehören die zentralasiatischen Staaten der Vereinigung an und der Iran sitzt als Beobachter daneben.

Die SOZ ist ein Versuch, dem Westen zu zeigen: Auch wir haben Verbündete und Alternativen, solltet ihr uns nicht ernst nehmen. Die SOZ entstand als Reaktion auf den Vormarsch der USA in Zentralasien. Weder Moskau noch Peking suchen aber eine Konfrontation mit Washington. Die SOZ ging auf Moskaus Initiative zurück. Inzwischen drängt China ans Ruder. Moskau setzt auf Partnerschaft mit China, will aber nicht die zweite Geige spielen. Noch decken sich die Interessen von Moskau und Peking. China verfolgt anders als Moskau eine strategisch durchdachte Politik. Russische Militärs sehen in China jedoch eine Gefahr für den schwach besiedelten russischen Fernen Osten.

Führen die neoimperialen Anwandlungen Moskaus gegenüber den GUS-Staaten nicht zur endgültigen Abkehr von Russland ?

Ja. Georgien zeigt das deutlich, es ist verloren. Auch der Gaskonflikt mit der Ukraine und Moldawien wirkte ähnlich. Unter dem Absingen neoimperialer Fanfaren wird zerstört, was aus der Konkursmasse übrig blieb.

Wie steht es um die von Georgien abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien? Wird Moskau sie anerkennen, wenn Kosovo unabhängig wird?

De facto sind sie Teil Russlands. Es gibt aber keine klaren Vorstellungen, was mit ihnen geschehen soll. Weder Wunsch noch Wille zu einer Klärung sind im Kreml vorhanden. Daher rührt die Widersprüchlichkeit offizieller Stellungnahmen. Auch in der Kosovofrage ist die russische Position nicht so eindeutig.

Das klingt danach, als hätte Moskau gar kein außenpolitisches Konzept.

Russland wird weiter Druck vor allem auf die EU ausüben. Eher um ökonomische als politische Ziele durchzusetzen. Es will den Zugang zu den Endverbrauchern in Europa. Hoffentlich reicht der Verstand, der Versuchung zu widerstehen, Energie als politische Waffe einzusetzen, was katastrophale Folgen hätte. Hohe Ölpreise vernebeln das Bewusstsein. Hinzu kommen Washingtons Hilflosigkeit im Nahen Osten und die Desorientierung der EU seit der Erweiterung. Plötzlich fühlt sich Russland wieder als Großmacht: Alle haben Probleme, nur wir nicht. Eine fatale Täuschung. Sollten die USA im Irak scheitern und abziehen, würde Russland versucht sein, sich wieder zum Sicherheitsgaranten in Zentralasien aufzuschwingen. Innenpolitisch bedeutete dies: Wir kehren in den ewigen Kreislauf Expansion statt Reformen und Modernisierung zurück.INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH