Mormonen in Deutschland: Direktmarketing im Auftrag Gottes
Sie ackern 15 Stunden täglich, machen keinen Urlaub und müssen über alles Rechenschaft ablegen. Konzern-Manager? Nein, zwei Mormonen auf Mission in Deutschland.
Dieser Nachmittag in Hamburg-Steilshoop gleicht einer „Mission impossible“: Sean Tanner und Zachary Pierson, US-Amerikaner Anfang zwanzig, der eine dunkelhaarig, der andere blond, sind Missionare der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ – oder kurz: der Mormonen. Sie klingeln an den Häusern fremder Leute. „Hallo?“, schallt es aus der Sprechanlage. „Ist Herr Barbosa* da?“, fragt Zachary Pierson.
Der Türöffner summt, sie treten in ihren schwarzen Anzügen in dieses abgewohnte Hochhaus am Gropiusring und hasten das kahle Treppenhaus hinauf, als ob ihnen ein potenzieller Täufling entwischen könnte. Denn die Währung, in der ihre Arbeit gemessen wird, ist die Anzahl der Getauften.
Das war schon in den 1960er Jahre so, als der junge Mitt Romney die Franzosen zum Mormonismus bekehren wollte. Und auch sonst hat sich nichts geändert am Tagesablauf der Missionare: 6.30 Uhr aufstehen, drei Stunden in der Bibel und im „Buch Mormon“ lesen, Deutsch lernen, frühstücken.
Der Gründer: Die Geschichte der Mormonen beginnt mit einem Bauernsohn in den 1820er-Jahren: Joseph Smith begründet 1830 diese „uramerikanische“ Religion. Er lebte polygam mit mindestens 30 Frauen.
Die Anhänger: Als Mormonen werden die Glaubensgemeinschaften bezeichnet, die sich neben der Bibel auf das Buch Mormon und andere Schriften berufen. Die größte Gruppe ist die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (HLT). Sie verbietet seit 1890 ihren Mitgliedern die Vielweiberei. Radikale mormonische Splittergruppen praktizieren sie jedoch bis heute.
Der Glaube: Die Mormonen nehmen für sich in Anspruch, die einzig wahre christliche Kirche zu sein: Denn sie glauben, dass Gott den Gründer Joseph Smith als seinen Botschafter auf Erden eingesetzt und mit ihm die Kirche „wiederhergestellt“ hat, wie sie zu Zeiten Jesu Christi existierte. (as)
Dann: Zehn Stunden „Direktmarketing“. Menschen auf der Straße ansprechen, an Türen klingeln. Und wenn sie mal frei haben: Gehen sie ins Kino? Treffen sie sich mit Mädchen? Verdaddeln ihre Freizeit am Computer? Absolutely not. Sie dürfen nicht fernsehen, keine Partys besuchen und nur auf Kirchenseiten surfen. Flirten und fummeln verboten, Sex vor der Ehe sowieso.
Als Tanner und Pierson im zweiten Stock ankommen, grüßt am Ende des langen Flurs ein Gartenzwerg mit einem Blumenstrauß. Herr Barbosa* öffnet die Tür. „Wir wollen mit Ihnen über Gott sprechen“, sagt Tanner. „Nicht heute!“, sagt Herr Barbosa. „Können wir wiederkommen?“, fragt Pierson. „Ja, nächsten Mittwoch um zwei Uhr.“ Dieser Termin war trotzdem ein Erfolg. Sie werden Herrn Barbosa erneut treffen, vielleicht will er sich sogar taufen lassen?
Ziegruppe: Gebildete Weiße
Er wäre der dritte Täufling in ihrer Missionszeit. „Deutschland ist kein leichtes Pflaster für Missionare“, sagt der Ex-Mormone Holger Rudolph, der knapp 800 Kilometer weiter südlich mit seiner Familie und zwei französischen Bulldoggen in St. Peter im Schwarzwald lebt. „13 Menschen habe ich während meinem Missionsdienst in England überzeugt. Die gebildeten Weißen waren unsere Zielgruppe, aber wir hatten bei den Armen, den Einwanderern, den sozial Schwachen mehr Erfolg. Das ist vermutlich heute noch so – auch in Deutschland.“
Das Ergebnis ihrer Arbeit halten die Missionare in einem Notizbuch fest. „Vieles geht über Zahlen bei den Mormonen, wie in der Geschäftswelt“, erklärt Rudolph. Wie viele Leute haben sie angesprochen? Wem haben sie „Lektionen“ erteilt? Gibt es einen neuen Täufling? Ihre Erfolge berichten sie regelmäßig ihren Vorgesetzten.
Und überhaupt sind die Mormonen organisiert wie eine Firma: Der Hauptsitz ihrer Religions-Company liegt in Salt Lake City, im US-Bundesstaat Utah. Weltweit hat diese etwa 13 Millionen Mitglieder, etwa die Hälfte davon in den USA. In Deutschland sind es knapp 40.000.
Ihr Oberchef heißt Thomas S. Monson. Er führt das religiöse „Old-White-Boys-Netzwerk“ an, das für Frauen keine Leitungsaufgaben vorsieht, in dem es keine Schwulen und Lesben geben darf, weil gleichgeschlechtliche Liebe in den Augen der Mormonen eine Sünde ist, und in dem Schwarze erst seit 1978 Priester werden können. Und das darüber wacht, dass die geheimen Tempelrituale nicht an die Öffentlichkeit dringen. Das die Mitglieder auffordert, ihre verstorbenen Ahnen posthum taufen zu lassen: das Totenreich als riesiges Missionsgebiet!
Ganz schön stressig: Lebende missionieren, Tote taufen und aktiv in der Gemeinde mitarbeiten. Droht da nicht der religiöse Burnout? „Ich war 14 Jahre Mitglied bei den Mormonen und Präsident einer Gemeinde bei Freiburg. Neben meinem Job als Informatiker, meinen Aufgaben als Ehemann und Vater arbeitete ich noch viele Stunden in der Woche für die Kirche. Und dann noch die finanzielle Belastung – die Abgabe des Zehnten.“
Aber der entscheidende Grund, warum Holger Rudolph den Mormonen „kündigte“, war ein anderer: „Mich störte von Anfang an, dass die Mormonen Homosexuelle, Schwarze und Frauen diskriminieren. Doch ich war zu verstrickt und indoktriniert. Jedenfalls konnte ich irgendwann das konservative Gedankengut nicht mehr ertragen und stieg aus.“ Er galt fortan als „Verräter“, die anderen Mitglieder mieden den Kontakt.
„Man gibt seine Persönlichkeit auf“
Um seine Zeit bei den Mormonen zu verarbeiten, verfasste Rudolph eine kritische Webseite über sie. „Mit Repressalien muss man nicht rechnen. Der Druck war ein anderer, ein innerer“, sagt er. „Wenn man diesem Glauben angehört, gibt man seine Persönlichkeit auf. Diese musste ich erst wiederfinden. Die ’Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage‘ ist zwar keine Psycho-Sekte wie die Scientologen, aber auch keine harmlose Gemeinschaft.“
Pierson und Tanner hinterfragen ihren Glauben nicht, sie rennen durch das triste Treppenhaus zum Ausgang Richtung Gründgensstraße. Dort kommt ihnen eine verwirrte Frau mit strähnigen Haaren und großer Brille entgegen. „Wir wollen mit Ihnen über Gott sprechen“, sagt Pierson. „Ich bin selber Gott“, antwortet die Frau. Dass der Mensch auch Gott werden kann – allerdings erst im Jenseits –, daran glauben auch die Mormonen.
Vielleicht ist dies der Kern ihres Glaubens: Die Mormonen schuften, sind anpassungsfähig und ehrgeizig, halten sich an Gebote und Gesetze, verzichten auf Alkohol, Tabak, Kaffee, Schwarztee. Und hoffen, sich so die „Göttlichkeit im Jenseits“ zu verdienen. Mit ihrer Art, zu leben und zu arbeiten, haben sie das Prinzip des Kapitalismus perfekt verinnerlicht: kapitalistischer Topf findet religiösen Deckel.
Wen wundert es, dass die Mormonen vor allem in ihrem Stammland so erfolgreich sind? Und viele zu Leitbildern aufsteigen. Neben Mitt Romney zum Beispiel Stephenie Meyer, Bestsellerautorin der „Biss“-Trilogie, Bill Marriott, Chef der nach ihm benannten amerikanischen Hotelkette. Brandon Flowers, Sänger der US-Rockband „The Killers“.
Auf künftige Führungsaufgaben werden die beiden Nachwuchsprediger jedenfalls gut vorbereitet sein. Mit Niederlagen umgehen lernen und trotzdem immer weitermachen – das lehrt die Arbeit auf der Straße. Wenn sie, wie jetzt am Fritz-Flinte-Ring, auf zwei Männer zugehen. Der eine mit Glatze und Kapuzenpulli, der andere führt einen Pittbull an der Leine. „Wussten Sie, dass Gott einen Plan für Sie hat?“, fragt Pierson. „Alle hassen Gott“, sagt der Mann mit Hund.
Romney überwies 2 Millionen Dollar
Tanner und Pierson bewegen sich so sicher in diesem Hamburger Kiez wie Ameisen in ihrem Staat. Als ob sie wie die Insekten einem genauen Plan folgten. Einem Plan für diesen Nachmittag und einem Lebensplan. In ein paar Wochen fliegen sie zurück in ihre Heimat, zu ihren Familien. Sie werden studieren, einen guten Job finden, eine Familie gründen.
Sie werden Gott dienen. Und der Kirche. Und ein Zehntel ihres Einkommens spenden. Mitt Romney soll allein im vergangenen Jahr etwa zwei Millionen Dollar aufs Konto der Mormonen überwiesen haben. Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ gehört zu den reichsten Religionsgemeinschaften in den USA. Auf 30 Milliarden Dollar wird ihr Vermögen geschätzt.
Bescheiden leben dagegen die Missionare. 170 Euro bekommen sie jeweils im Monat von der Kirche. Etwa 10.000 Euro haben sie vorab für ihren Missionsdienst bezahlt. Hat sich das gelohnt? „Oh ja! Wir haben viele Erfahrungen gemacht“, sagt Tanner. Und Pierson fügt hinzu: „Wir sind als Jungs gekommen und kehren als Männer zurück.“ Ihre Antworten klingen wie die von Musterpraktikanten.
„Am meisten werden wir die spannenden Begegnungen vermissen“, sagen beide wie aus einem Mund. „Und Döner.“ Hin und wieder haben sie sich eine Teigtasche vom Türken geleistet. Vielleicht machen sie das auch heute, in einer kurzen Pause. Dann geht es weiter – unbeirrt und in dem festen Glauben, dass sich für sie ihre Lebensmission erfüllt. Ob noch im Diesseits, in Hamburg-Steilshop, oder eben irgendwann im Jenseits.
* Name geändert
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