Mord an armenischen Chefredakteur: "Wir werden nach wie vor bedroht"

Ein Jahr nach dem Mord an Hrant Dink ist die armenisch-türkische Wochenzeitung "Agos", die er leitete, bedroht: Die Auflage sinkt - und für türkische Nationalisten bleibt sie ein Hassobjekt.

Hrant Dink, Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, wurde vor einem Jahr, am 19. Januar 2007, ermordet. Bild: dpa

ISTANBUL taz An der Fassade des Gründerzeithauses im bürgerlichen Istanbuler Stadtteil Sisli sind alle Hinweise auf die armenisch-türkische Wochenzeitung Agos entfernt. Wer zur Redaktion will, muss genau wissen, wo sie sich befindet. Wo früher die Türen offen standen, ist jetzt eine Sicherheitsschleuse, an deren Ende ein Wachmann jeden Besucher in Empfang nimmt.

Heute vor einem Jahr veränderten drei Schüsse die Türkei - sie fielen genau hier. Hrant Dink, der bekannteste armenische Publizist des Landes und Gründer und erster Chefredakteur von Agos, wurde direkt vor dem Gebäude von einem jugendlichen Nationalisten ermordet. Die Lage der armenischen Minderheit in der Türkei hat sich seitdem eher verschlechtert - und bei Agos ist noch längst keine Ruhe eingekehrt. "Wir werden nach wie vor bedroht", sagt einer der Redakteure, Aris Nalci. "Die Zeitung bekommt Schmähpost, einzelne Redakteure auch Drohanrufe." Für türkische Rechtsradikale, Nationalisten und Neofaschisten bleibt das armenische Wochenblatt ein Hassobjekt.

Immerhin, die Zeitung existiert und die Mitarbeiter machen unverändert weiter. Doch die große Solidaritätswelle nach Dinks Tod hielt nur ein paar Monate vor. "In den ersten Monaten danach", sagt Aris Nalci, "haben wir mehr als 10.000 Exemplare verkaufen können." Mittlerweile hat sich die Auflage wieder auf die alte Höhe eingependelt - 5.000 bis 6.000 Zeitungen pro Woche. Ein Geschäft ist das nicht, die meisten Mitarbeiter müssen sich ihren Lebensunterhalt auch anderweitig verdienen.

Vor Dinks Todestag herrscht geschäftiges Treiben in der Redaktion: Eine große Gedenkveranstaltung wird vorbereitet; die türkische Öffentlichkeit erinnert sich an den Schock, den der Mord an dem bekanntesten armenischen Intellektuellen des Landes ausgelöst hatte. Die Hintergründe der Tat aber sind längst nicht aufgeklärt. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Ogün Samast schleppt sich seit einem Dreivierteljahr dahin, ohne neue Erkenntnisse hervorzubringen. Samast war auf frischer Tat ertappt worden, als er Hrant Dink niederschoss. Die Nebenklägeranwälte, die die Familie Dink vertreten, versuchen zwar, das Geflecht möglicher Hintermänner zu entwirren - doch bislang vergebens.

Mutmaßliche Polizeispitzel, die schon lange vor Dinks Tod von Mordabsichten gegen den angeblichen "armenischen Verräter" berichtet hatten, durften bislang nicht aussagen. Vernehmungen beteiligter Polizisten wurden abgeblockt. Dabei gibt es jede Menge Indizien dafür, dass der Mord auf das Konto rechtsradikaler Seilschaften in Polizei, neofaschistischen Parteien und Armee geht, die jugendliche Täter instrumentalisieren. Dinks mutmaßlicher Mörder war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt.

Diese Zusammenhänge sind nicht aufgeklärt. Stattdessen wurde Dinks Sohn Arat vor Gericht gezerrt - für dasselbe Delikt, für das auch Hrant Dink im Juli 2006 zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt worden war, was ihn erst zur prominenten Zielscheibe für die Nationalisten gemacht hatte: Beleidigung des Türkentums. Arat Dink hatte in Agos den Nachdruck eines inkriminierten Artikels seines Vaters presserechtlich verantwortet - und wurde in erster Instanz ebenfalls verurteilt. Der Prozess gegen ihn wird im Februar fortgesetzt. Er lebt nun mit seiner Familie überwiegend in Brüssel und kommt nur noch gelegentlich nach Istanbul.

Chefredakteur von Agos ist heute der armenische Intellektuelle Etyen Mahcupian. Er ist einer der wenigen, die sich durch den Mord an seinem Freund Hrant nicht haben einschüchtern lassen. Die Debatte über die Rolle von Staat und Armee bei der Vertreibung und Ermordung hunderttausender Armenier während des Ersten Weltkrieges wäre durch den Mord an Hrant Dink komplett beendet - gäbe es nicht Mahcupian, der immer wieder, auch in den großen türkischen Tageszeitungen, den Finger in die Wunde legt. Trotz der Gefahr, in die er sich damit begibt, nimmt er Stellung - nicht nur als Journalist, sondern auch als Leiter des Ressorts für demokratische Entwicklungen in einem der renommiertesten türkischen Thinktanks.

"Für uns hier bei Agos", sagt Aris Nalci, der Redakteur, "ist es keine Frage, dass wir weitermachen." Die Existenz der Zeitung ist zwar in Gefahr. Doch notfalls, sagt Nalci, würden er und seine Kollegen eben umsonst arbeiten.

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