Montagsinterview zum Druck auf Migranten: "Niemand ist gefeit vor Depression"

Meryam Schouler-Ocak, Tochter türkischer Einwanderer, ist leitende Oberärztin an der Berliner Charité. Ihr Fachgebiet ist Depression. Vor allem die psychischen Leiden von Migranten treiben sie um.

"Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkranken einmal im Leben an Depressionen", sagt Meryam Schouler-Ocak. Bild: anja weber

taz: Frau Schouler-Ocak, Sie leiten das Berliner Bündnis gegen Depression. Es klingt, als wappneten sich viele für den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind.

Meryam Schouler-Ocak: Das tun wir ja auch.

Hat man nicht schon verloren, wenn man Depression als Gegner wahrnimmt? Muss man nicht eher lernen, damit zu leben?

Ich sehe das nicht so. Depression ist eine Krankheit. Vier Millionen Menschen in Deutschland sind aktuell betroffen. Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkranken einmal im Leben daran. Sie und ich sind nicht gefeit davor. Da muss auch nach Behandlungsmöglichkeiten gesucht werden.

Meryam Schouler-Ocak ist Psychiaterin, Neurologin, Psychotherapeutin und Traumatherapeutin. Sie ist leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Uniklinik der Charité im St.-Hedwigs-Krankenhaus. Zudem leitet sie das Bündnis gegen Depression in Berlin und die Arbeitsgruppe Versorgungs- und Migrationsforschung an der Charité.

Schouler-Ocak wurde 1962 in der Türkei geboren. Als Kind kam sie nach Duisburg. Sie setzte sich gegen ihre Eltern durch, machte Abitur, studierte und promovierte.

Ein Viertel aller Frauen und ein Achtel aller Männer erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Depression. Bei Migranten und Migrantinnen ist das Risiko höher. Oft werden gerade sie jahrelang auf körperliche Beschwerden behandelt, ohne dass die Depression erkannt wird.

Von einem Krankheitsbild Depression spricht man, wenn Beschwerden wie Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, verminderte Aufmerksamkeit und Konzentration, aber auch Schlafstörungen, Libidominderung, lebensmüde Gedanken ununterbrochen mindestens 14 Tage anhalten.

Durch großflächige Aufklärung über Depression erreichte ein Forschungsprojekt in Nürnberg, dass die Selbstmordrate um 25 Prozent sank. Das 2005 gegründete Berliner Bündnis gegen Depression ist eins der vielen Nachfolgeprojekte. Als Erstes kümmert es sich vor allem um Menschen mit Migrationshintergrund.

Warum sind doppelt so viele Frauen wie Männer betroffen?

Manche bringen die Hormone als Ursachenfaktor mit in die Diskussion. Nach Geburten etwa gibt es öfters depressive Einbrüche. Beobachtet wird auch, dass Frauen, die zu Hause bleiben, weil sie Kinder haben, und somit ihre beruflichen Vorstellungen nicht realisieren können, besonders häufig betroffen sind. Insgesamt ist aber noch unklar, warum Frauen häufiger erkranken.

Ihr Schwerpunkt im Bündnis ist Depression bei Menschen mit Migrationshintergrund. Warum ist das noch einmal ein besonderes Feld?

Aus meiner psychiatrischen Praxis weiß ich, dass Menschen mit Migrationshintergrund sehr oft die Diagnose Depression gestellt bekommen. Da muss es einen Zusammenhang geben mit ihrer Migrationssituation und den verschiedenen Phasen, die sie im Migrationsprozess durchlaufen. In jeder gibt es spezifische Stressfaktoren. Stress löst bei entsprechender Empfänglichkeit Depression aus.

Welche Migrationsphasen meinen Sie?

Zuerst die Vorbereitungsphase. Die kann ganz unterschiedlich ausfallen. Wenn ein Deutscher nach Kanada auswandert, kann er sich darauf vorbereiten, die Sprache lernen, Abschied nehmen. Wenn ich jedoch - sei es wegen Krieg, Hunger oder Verfolgung - unfreiwillig migriere, weiß ich nicht, wohin ich gehe, was mit mir passiert. Ich weiß nicht, wie der Weg ist oder wo ich ankomme.

Solche Ungewissheit reibt die Leute auf?

Sicher. Ich erinnere mich an meine Migration, ich bin ja türkeistämmig. Als kleines Mädchen sollte ich nach Deutschland. Ich habe geweint, gesagt, da will ich nicht hin, obwohl meine Eltern ja im Ruhrgebiet lebten. Man hat mich einfach auf den Arm genommen und weggetragen. Freiwillige Migration verursacht weniger Stress als unfreiwillige.

Welche Stressfaktoren gibt es beim Migrationsakt an sich?

Der kann ein paar Stunden dauern, wenn man fliegt, und ganz passabel verlaufen. Oder er kann Wochen dauern - bei ungewissen Fluchten über mehrere Länder gar Monate - und sehr gefährlich sein. Ich hab Patienten, die tagelang in Hohlräumen in LKWs migriert sind und nicht wussten, wohin sie fahren und wo sie ankommen. Da steckt erhebliches Traumapotenzial drin.

Was kommt als nächstes?

Die Phase der Überkompensation. Die Goldgräber-, die Honeymoonstimmung. Jetzt denken die Leute, sie sind im ersehnten Land und können alles schaffen. Sie denken: Endlich wird es mir besser gehen, ich kann meine Träume realisieren, meine Kinder werden es gut haben.

Was ist, wenn diese Stimmung kippt?

Dann kommt die Phase der Dekompensation. Man kommt auf dem Boden der Realität an, sieht vieles mit anderen Augen. Man merkt: Ich kann die Sprache nicht, meine ganzen Vorstellungen, Träume, Entwürfe werden durcheinandergewirbelt. Es gibt viel mehr Schwierigkeiten, als ich dachte. In dieser Phase haben Menschen mit Migrationshintergrund meist zum ersten Mal Kontakt mit dem Gesundheitssystem. Im Durchschnitt geschieht das nach sieben Jahren.

Wie war Ihr eigener Migrationsprozess - außer dass Sie nicht gehen wollten als Kind?

Meine Schwester und ich lebten abwechselnd bei den Großmüttern in einem Dorf am Schwarzen Meer und landeten in Duisburg. Wir wurden einfach einem fremden Mann anvertraut. Der hat uns mit ins Flugzeug genommen und unsere Eltern haben uns vom Flughafen abgeholt.

Hatten Sie auch eine Phase der Überkompensation?

Ich erinnere mich nur, dass meine Mutter sehr froh war, ihre Töchter wieder bei sich zu haben und uns viele Wünsche erfüllte. Ich erinnere mich, dass ich als Mädchen so eine Riesenpuppe, so eine Kirmespuppe, mit langen, dunklen Haaren bekam.

Gab es eine Dekompensation?

Ich weiß nicht, ob man das so nennen kann. Schwierig wurde es, als es später hieß, ihr werdet langsam junge Frauen. - Ich muss mir jetzt erst einmal überlegen, wie viel ich erzählen möchte, das wird ja jetzt sehr privat.

Persönliches ist anschaulicher als Theorie.

Ich kam 1970 nach Deutschland. Da gab es kaum Kinder von Migranten, weil die Familien damals noch nicht oft nachgeholt wurden. Meine Peergroup bestand daher aus deutschen Jugendlichen. Das war kein Problem, bis meine Schwester und ich ins Heiratsalter kamen. Die Frage war plötzlich: Was passiert mit uns - jungen Mädchen von der Schwarzmeerregion. Für meine Eltern war die Antwort klar: heiraten. Es kamen viele Leute, um um uns zu werben. Meine Schwester ist mit 17 eine arrangierte Ehe eingegangen. Ich wollte Abitur machen.

Da steckte Konfliktpotenzial drin?

Sicher. Meine Eltern waren sehr streng, wurden wiederum aber auch von der Heimat aus kontrolliert. Da kamen dann Anweisungen nach dem Motto: Die Tochter soll den und den heiraten. Meine Eltern setzten solche Vorgaben mitunter um. Was ich an ihnen jedoch sehr schätze: Sie haben sich auch auf Veränderungen, die wir Kinder einforderten, eingelassen. Ich meine, die haben viel mit uns durchgemacht, ich will jetzt keine Details nennen, aber sie haben sich dem Neuen nicht verschlossen.

Und heute sind Ihre Eltern sehr stolz auf Sie?

Ja, das sind sie. Wenn ich meine Eltern frage, warum habt ihr das damals so gemacht, antworten sie: Wir haben es nicht anders gewusst und nicht anders gekonnt. Noch als ich drei Wochen vor dem Abitur für Chemie lernte, fragte mich meine Mutter: Was machst du ständig mit diesen Büchern? Geh in die Fabrik und verdien Geld für deine Aussteuer. Heute sagt sie: Gut, dass du dich durchgesetzt hast.

War Ihre Mutter Analphabetin?

Sie ist Analphabetin. Mein Vater hat Lesen und Schreiben beim Militär gelernt.

Frauen haben ein doppelt so hohes Depressionsrisiko wie Männer. Aber ausländische Frauen, so geht es aus dem jüngsten Berliner Gesundheitsbericht hervor, haben noch einmal ein um 25 Prozent höheres Depressionsrisiko als deutsche Frauen. Warum?

Diese Frauen sind noch mehr Belastungsfaktoren ausgesetzt als Einheimische. Sie müssen sich vorstellen, was es bedeutet, aus dem sozialen Netz der Heimat gerissen zu werden, die Sprache, die Gepflogenheiten im neuen Land nicht zu kennen. Hinzu kommt die Mehrfachbelastung als Ehefrau, Mutter, Arbeiterin, Schwiegertochter sowie Einsamkeit, Heimweh und eingeschränkte Perspektiven. Zudem sind viele Arbeitsmigranten, aber auch die deutsche Gesellschaft, davon ausgegangen, dass Gastarbeiter irgendwann zurückgehen. 40 Jahre lang hat sich kaum jemand ernsthaft um Fragen der Integration gekümmert. Ein Riesenversäumnis. Heute erkennt man die Folgen. Das hohe Depressionsrisiko bei Migrantinnen ist eine.

Kommen eigentlich mehr junge oder mehr alte Menschen in die Sprechstunde?

Es hält sich die Waage. Wir haben allerdings einen nicht unerheblichen Teil von Heiratsmigrantinnen. Heiratsmigration ist eigentlich die einzige Möglichkeit, legal in Deutschland einzureisen. Die jungen Frauen, die eine solche Ehe eingehen - mal, weil sie sich dem Familienwunsch nicht entziehen können, mal, weil sie es selbst wollen, mal, weil sie Abenteuerlust verspüren - wissen oft gar nicht, worauf sie sich einlassen.

Ist die Desillusionierung absehbar?

Auf jeden Fall. Diese Frauen haben in der Türkei mitunter modern gelebt. Dann kommen sie hierher und haben völlig unterschätzt, in welchen Abhängigkeiten sie landen. Vom Mann, von den Schwiegereltern. Sie werden eng gehalten, haben keine Freunde, niemanden, mit dem sie sich austauschen, und sind wie Bedienstete. Dann kriegen sie Kinder und dürfen sie mitunter noch nicht mal nach ihren Vorstellungen erziehen. Und was ich häufig sehe: Manchmal sind sie gebildeter als die Männer. Wenn die Frauen die Rahmenbedingungen hier nicht akzeptieren und ertragen können, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie psychisch einbrechen. Wir haben auch mehrere junge Patientinnen, die nach Suizidversuchen kommen oder nach Gewalterfahrungen mit ihren Partnern.

Gewalt gilt laut Weltgesundheitsorganisation als großes Risiko für die Frauengesundheit.

Richtig. Es gibt Forschungen aus den USA und Kanada aus denen hervorgeht, dass man finanziell wesentlich besser dastünde, wenn man mehr für die Prävention gegen Gewalt gegen Frauen tun würde, als sich mit den hohen Folgekosten von Gewalt abzufinden.

Sie sind eine Ärztin, die selbst einen Migrationshintergrund hat. Was erwartet man von Ihnen in der Sprechstunde?

Kulturelles Hintergrundwissen über "die Heimat" und eine ungestörte Kommunikation in der Muttersprache. In der Primärsprache werden Erinnerungen und Emotionen abgespeichert. In der erlernten Sprache werden mehr sachbezogene Inhalte gespeichert. Wenn Sie mich in meiner Muttersprache auf bestimmte Erfahrungen ansprechen, bin ich emotionaler, bin ich schwingungsfähiger. Kann sein, dass ich in Tränen ausbreche. Würde ich dasselbe in der Zweitsprache erzählen, würde ich vermutlich, gefasster und damit weniger belastet wirken.

Sprechen Sie auch Kurdisch oder Arabisch?

Nein, nur Türkisch, Deutsch, Englisch und was man in der Schule so lernt.

Welches ist Ihre Muttersprache?

Das ist eine gute Frage. Ich bin ja hier sozialisiert. Aber was mich emotional erreicht, ist die Musik der Schwarzmeerküste. Diese schnelle, auf viele sehr unruhig wirkende Musik. Ich höre sie gern, wahrscheinlich weil sie bei uns zu Hause immer gespielt wurde. Und ich höre sie auch, wenn es mir schlecht geht.

Interview: Waltraud Schwab

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