Montagsinterview mit Tagesmutter Kerstin Rietze: "Für die Kinder muss klar sein, wer Erwachsener ist und wer Kind"
Die CDU hat Familienministerin Ursula von der Leyen. Die SPD wirbt mit der TV-Supernanny Katharina Saalfrank. Berlin hat Frauen wie Kerstin Rietze. Zu DDR-Zeiten war sie Erzieherin in einer Marzahner Riesen-Kita. Heute betreut sie als Tagesmutter fünf Kleinkinder in ihrer Wohnung.
taz: Frau Rietze, im Wahlkampf streiten gerade die Supernanny Katharina Saalfrank und die Powermutter Ursula von der Leyen um das beste Konzept. Sie betreuen jeden Tag fünf Kinder und sind damit eigentlich eine Supernanny. Was ist Ihr Geheimnis?
Kerstin Rietze: Als Tagesmutter hat man Abstand. Man kann besser sehen, wo die Fehler der Eltern liegen.
Und was machen Eltern falsch?
Ach, es gibt einfach Momente, wo Eltern so tief drinstecken, dass sie nicht mehr rausgucken können. Die Kinder sind schlau, sie wissen genau, was sie machen müssen, bis es dazu kommt, dass die Mutter sagt: "Ich kann nicht mehr, ich weiß nicht, was ich machen soll."
Die Tagesmutter: Kerstin Rietze (49) betreut seit 1994 je fünf Kinder zwischen 0 und 3 Jahren in ihrer Pankower Wohnung. Zu Ostzeiten hat die gelernte Erzieherin in einer Marzahner Riesenkita 50 Kinder allein betreut.
Die Mutter: Rietze lebt in einer Patchworkfamilie mit zwei mitgebrachten Kindern, einer gemeinsamen Tochter und einer Tochter, die ihr Mann in die Ehe gebracht hat. Die Kinder sind 28, 27, 26 und 16 Jahre alt. Die Jüngste wohnt noch zu Hause.
Die Wohnung: Auf den 110 Quadratmetern im Hochparterre eines Pankower Altbauses gibt es ein großes, helles Spielzimmer mit einer gewaltigen Klettergerüstkonstruktion. Im Flur hängen fünf Matschhosen an der Garderobe.
Die Mitbewohner: Im Wohnzimmer hockt ein Graupapagei in einem Käfig. Auf dem Couchtisch liegt Schoklade. Während des Gesprächs kommt ab und zu Rietzes Mann herein, hört kurz zu, gibt dem Papagei Wasser oder streichelt ihn.
Darf man zum Beispiel rumbrüllen oder nicht?
Wenn man mal laut oder wütend sagt: "Also, jetzt reichts mir!", dann ist das in Ordnung. Dann wird das Kind wissen, dass da jetzt gerade eine Grenze war. Man muss nicht immer der Supervater oder die Supermutter sein. Aber wenn ich mit meinem Kind nur schreie, dann wird bald keine Reaktion mehr kommen.
Was ist Ihr wichtigster Tipp?
Alle Eltern haben mal Probleme mit ihren Kindern. Das ist normal. Für Kinder ist Klarheit das Wichtigste. Sobald kleine Kinder sich viel aussuchen können, sind sie überfordert.
Wenn ich meiner Tochter einen Schlafanzug anziehen will, kriegt sie einen Trotzanfall. Was tun?
Dann zieht man ihr den Schlafanzug an.
Also kämpf ich einem schreienden Kind den Schlafanzug an?
Man kann warten, bis der Trotzanfall zu Ende ist. Dann sagt man, okay, ich zieh dir jetzt den Schlafanzug an. Das sind klare Sachen. Die Kinder wollen halt einfach gucken, wie weit sie gehen können.
Zähne zusammenbeißen und auf keinen Fall weich werden?
Es gibt ja andere Momente, wo das Kind seinen Willen durchsetzen kann. Wenn es heute keinen Löffel will, sondern eine Gabel. Dann kann man ja sagen: "Ja, bitte! Probier die Suppe mit der Gabel zu essen!" Dann ist das eine Sache, die kann es erfahren.
Ab wann kann man sein Kind von anderen Leuten betreuen lassen?
Wenn man das für sich mit gutem Gewissen vereinbaren kann. Neulich kam zum Beispiel eine Mutter zu mir. Die war noch nicht ganz in der Tür, da hat sie gesagt: "Ich muss wieder gehen. Sie sind mir so was von unsympathisch!" Das war zwar schmerzlich für mich, aber das wäre nie gutgegangen.
Irgendwann gehen die meisten Kinder dann in einen Kindergarten. Und beschließen, die Zeit vorm Losgehen zum Ausflippen zu nutzen.
Die Kinder spüren ja, wenn man Zeitdruck hat. Dann spüren sie einfach: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich wirklich an die Kante rankomme, wo meine Mutter völlig fertig ist, und hinterher, wenn sie das Kind im Kindergarten abgegeben hat, dann vor der Tür weint. Solche Momente gibt es überall. Die muss es vielleicht auch geben, um diese Beziehung zueinander intakt zu halten.
Die Supernanny im Fernsehen zeigt einen ganzen Katalog von Disziplinierungsmaßnahmen. Sie schickt Kinder zum Beispiel für eine Auszeit auf die "stille Treppe".
Jetzt lernen alle Leute, dass man so was machen soll. Dann wird es so oft gemacht, dass es keinen Reiz mehr auf die Kinder hat.
Welchen Erziehungsratgeber würden Sie empfehlen?
Gern habe ich das Buch von diesem Winterhoff gelesen: "Wie wir unsere Kinder zu Tyrannen erziehen". Er beschreibt das, was ich jeden Tag sehe. Dass es wirklich so ist, dass die Kinder Eltern haben wollen, nicht nur gute Kumpel. Heutzutage hat man Eltern, wo die Kinder ganz viel dürfen.
Was ist daran so schlecht?
Für die Kinder muss klar sein, wer Erwachsener ist und wer Kind. Die Kinder müssen das Gefühl haben, dass sie wirklich jemanden haben, der manche Entscheidung für sie treffen kann. Man sieht aber, dass viele Eltern vor lauter Nettseinwollen einfach eine Grenze überschreiten.
Zum Beispiel?
Das Kind will etwas nicht machen. Da sagen die Eltern dann nicht klar: "Ich möchte das jetzt." Sondern da wird gesagt: "Ach, guck mal hier!" Die Kinder sind aber schlau, sie bekommen das mit, dass das nur ein Ablenkungsmanöver ist. Die Eltern denken: "Hurra, hat geklappt!" Aber beim vierten Mal steigt das Kind dann nicht mehr drauf ein, und man muss sich wieder was Neues ausdenken. Anstatt ganz klar zu sagen: Im Winter werden die Schuhe angezogen, weil es kalt draußen ist. Das ist ja nichts Schlimmes, was man da sagt.
Die Eltern heute wollen den Kindern einfach Frustrationen ersparen.
Das merke ich häufig, dass die Kinder eine sehr niedrige Frustrationsgrenze haben. Wenn man nein sagt, fangen sie sofort an zu weinen. Früher konnten die Kinder damit anders umgehen.
Sie dagegen haben gerade neun Stunden lang fünf Kinder betreut und machen dafür einen ziemlich entspannten Eindruck. Wann sind Sie denn mal gestresst?
Wenn von fünf Kindern mehr als zwei gefüttert werden müssen. Da muss man am besten allen gleichzeitig was in den Mund schieben. Da habe ich Stress.
Bestechen Sie die Kinder dann wenigstens mit Süßigkeiten?
Bei mir gibt es viel selbst gemachte Fruchtaufstriche und einen selbst gemachten Schokoladenaufstrich aufs Brot. Gummibärchen nur zum Fasching und zum Geburtstag. Unser Papagei ruft oft laut: "Bitte! Bitte! Schoko! Schoko!" Die Kinder sind dann sehr stolz, wenn sie ihm sagen können, dass es jetzt keine Schokolade gibt.
Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen will mehr Möglichkeiten zur Kinderbetreuung schaffen. Die Wunderwaffe sind dabei die Tagesmütter. Hat sich das bei Ihnen bemerkbar gemacht?
Es gibt jetzt viel mehr Tagesmütter. Und früher konnte jeder Tagesmutter werden, der ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen konnte. Heute gibt es Vorbereitungskurse, richtige Zertifikate und viel mehr Angebote zur Fortbildung. Auch eine gesunde Konkurrenz unter den Tagesmüttern.
Früher dachten viele, eine Tagesmutter ist eine arbeitslose Frau, die mit ein paar Kindern zu Hause auf dem Sofa sitzt, nebenher ihren Haushalt macht und dafür auch noch Geld bekommt.
Es gibt auch heute immer noch Eltern, die sich fragen: Was macht die Frau denn mit den Kindern? Die kann ja machen, was sie will.
Aber das Image Ihres Berufs ist doch gar nicht mehr so schlecht.
Die Nachfrage ist einfach groß. Dabei wird nicht wirkliche Werbung gemacht.
Wie bewerten Sie unterm Strich die Maßnahmen von Frau von der Leyen?
Das ist ein Anfang, um die Tagesmütter mit den Erzieherinnen gleichzustellen. Aber bei weitem nicht genug.
Was fehlt?
Zum Beispiel Investitionsprogramme. Alles, was ich in meinem Kinderzimmer habe, habe ich ja selbst finanziert. Es gibt zwar seit 2008 Investitionsprogramme, aber in Pankow wurden die Gelder letztes Jahr nicht ausgegeben. Die Psychologin, die uns betreut hat, wird auch eingespart. Außerdem müsste es eine Vertretung geben, wenn man krank ist. Und eine gerechtere Bezahlung. Wir bekommen 20 Tage im Monat bezahlt, auch wenn der Monat 23 Tage hat. Ist ein Kind drei Tage krank, wird mir ein Teil des Geldes für diese Tage abgezogen, obwohl ich ja trotzdem da bin. Diese Ungerechtigkeiten müssten abgeschafft werden.
Warum sind Sie nicht Erzieherin geblieben?
Ich hab in Marzahn gearbeitet. Die Kinder waren nicht nur acht Stunden da, sondern zehn, elf und zwölf Stunden. Weil die Eltern zu ihren Arbeitsstellen so weite Anfahrtswege hatten. Ich hatte allein 25 Kinder zu betreuen. Und nachmittags manchmal 50 Kinder allein in einem Turnraum. Das war der Horror. Man konnte ja nichts machen mit den Kindern, man konnte sie nur noch stillhalten. Das war nicht, was ich wollte.
Nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter sind Sie Tagesmutter geworden. Was ist denn der Unterschied zwischen einer Tagesmutter und einer Erzieherin?
Eine Erzieherin in der Kita kann schicke Sachen anhaben oder nicht. Alles andere weiß man nicht. Ob sie zu Hause Löwen auf dem Sofa sitzen hat oder sechs Hunde. Bei mir dagegen kennen die Eltern alles, weil alles hier in der Wohnung stattfindet. Und dann sind es natürlich weniger Kinder als in einer Kita. Ich wollte, dass meine Tochter andere Kinder hat zum Spielen, aber ich wollte sie in keine Krippe geben, so wie ich das mit meinen großen Kindern machen musste.
Warum nicht?
Als meine großen Kinder klein waren, konnte sich kaum jemand leisten, zu Hause zu bleiben. Beide Eltern mussten Geld verdienen, sonst war es einfach zu wenig. Mein Sohn ist mit fünf Monaten in die Krippe gegangen.
War das falsch?
Die Babys wurden damals in der Garderobe nackig gemacht und nackt der Erzieherin übergeben. Alles Persönliche wurde abgelegt. Dann wurde Fieber gemessen. Dann konnte man zur Arbeit gehen. Im Nachhinein fand ich das ganz schrecklich. Da war wirklich alles weg, was von der Familie kam! Aber meinem Sohn gings gut. Meine zweite Tochter hat das dagegen nicht verkraftet. Sie war neun Monate alt, als ich sie in die Krippe gegeben habe. Sie ist schwer krank geworden. Und das hat sich hingezogen bis zur Schule. Da hab ich dann immer gedacht: Sie war krank, weil es nicht so war, wie sie es vielleicht gebraucht hätte.
Schlechtes Gewissen?
Nö. Das passte damals in die Zeit.
Mit ihrer jüngsten Tochter wollten Sie es dennoch anders machen.
Ich wollte ein Westkind haben.
Ein Westkind?
Ich hab zu DDR-Zeiten genäht, gestrickt, alles selbst gemacht. Der Horror war in Marzahn im Winter, man möchte einen Schneeanzug kaufen fürs Kind. Meine Mutter und ich sind in das einzige Kaufhaus, was es gab. Es war klar, dass irgendwann an diesem Tag dort Schneeanzüge rausgefahren werden. Alle Leute drängelten sich herum, nur um diesen einen Wagen abzupassen und irgendwas zu erwischen. Das fand ich schrecklich. So war Schuhkauf. So war der Kauf von Kordhosen. Das wollte ich jetzt einfach mal anders auskosten.
Ein Westkind also.
Meine jüngste Tochter hatte aber auch keine bessere oder leichtere Entwicklung als meine mittlere Tochter. Sie war auch viel krank. Obwohl sie bis zum dritten Lebensjahr mit mir zu Hause war.
Was ist der Unterschied zwischen einer West- und einer Ost-Erziehung?
Im Westen gabs erst die Autoritären, dann die Antiautoritären. Und da gabs ja auch Kinderläden. Kleine Läden, wo wenige Kinder waren. Im Osten gabs nur die Volksbildung, die gesagt hat, was die Kinder zu lernen haben und was nicht. Das war natürlich ein ganz großer Unterschied. Es war allerdings nicht so, dass die Kinder in den Ost-Kitas stundenlang in der Reihe auf Töpfen sitzen mussten. Das hört man ja ganz oft. Ich hab das nie erlebt. Auch im Osten wurde versucht, die Kinder individuell zu betrachten. Sicher war das durch die Menge der Kinder nur begrenzt möglich. Aber damals war es wie heute: Alles steht und fällt mit der richtigen Erzieherin.
Aber die Mütter haben sich nach dem Mauerfall doch verändert?
Zu DDR-Zeiten war es üblich, dass man in jungen Jahren Kinder bekam. Wer keins hatte, war fast Außenseiter. Kurz nach der Wende kam der Geburtenknick bei den Ostfrauen. Wir hatten ja zu Ostzeiten viele Rechte als Familienfrau gehabt, die waren nun weg. Wenn man jetzt als Frau ein Kind bekommt, dann ganz bewusst. Die Väter nehmen neuerdings auch die zwei Monate Väterzeit. Das wirkt sich sicherlich auch auf das Mutterbild aus. Die Väter wissen jetzt, dass man als Mutter nicht zu Hause sitzt und Zeitung liest.
Und wie finden es Ihre eigenen Kinder, dass Sie Tagesmutter sind?
Es ist immer viel los bei uns. Für ein pubertierendes Kind ist es sicher auch schön, wenn die Eltern mal nicht zu Hause sind. Mal heimlich und allein irgendein blödes Zeug machen. Das hatten meine Kinder nie. Ich bin ja eigentlich immer da.
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