Montagsinterview Frauenarzt Werner Mendling: "Ich würde nicht noch mal in den Osten ziehen"
In wenigen Tagen beginnt 2009, das 20. Jahr nach dem Mauerfall. Der Frauenarzt Werner Mendling zog 1995 mit seiner Frau zog er nach Frankfurt (Oder). Sie schrieb drei Jahre später ein Buch mit ätzender Kritik über die Erfahrungen im Osten - inzwischen ist sie gestorben.
taz: Professor Mendling, können wir über den Tod Ihrer Frau sprechen?
Werner Mendling: Ja.
Ihre Frau Gabriela ist vor eineinhalb Jahren gestorben.
Sie wurde 47 Jahre alt. Sie starb an einer schweren Erkrankung und litt auch an Depressionen.
Machen Sie sich im Nachhinein Vorwürfe?
Im Stillen schon. Weil ich nach Frankfurt gegangen bin. Meine Frau ist letzten Endes daran gescheitert. Sie hat mit ihren Büchern über unsere Erfahrungen als Westler im Osten Geschichte gemacht. Aber geendet ist es in einer Katastrophe.
Sie sind 1995 von Wuppertal nach Frankfurt (Oder) gegangen, um Chefarzt an einer Klinik für Frauenheilkunde zu werden. War der Wechsel von West nach Ost gut überlegt?
Ein enger Freund hatte mir sehr zugeraten: "Werner, das ist eine gute Klinik. Mach das ruhig." Auch das Umfeld erschien uns günstig.
Sein Beruf ist die Frauenheilkunde, sein Hobby die Ornithologie. Deshalb hat Mendling in seinen Arbeitszimmern im Klinikum Am Urban und im Friedrichshain eine Vogeluhr zu hängen. Jede volle Stunde ruft ein anderer Piepmatz. "So hat jeder seinen Vogel", sagt er.
Mendling ist 62 Jahre alt. Er ist der Sohn eines Zahnarztes und einer Verwaltungsangestellten, wächst im Rheinland auf und besucht ein humanistisches Gymnasium. Das Geld für das Medizinstudium verdient er sich selbst.
Von 1975 bis 1995 ist er als Arzt und später Oberarzt an der Frauenklinik Wuppertal tätig. Am 1. April 1995 wird er Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Frankfurt (Oder). Als Konsequenz aus den Anfeindungen gegen seine Frau, die 1998 in dem Buch "NeuLand" ihre Erfahrungen als Westlerin im Osten veröffentlicht, gibt er die Stelle im Mai 2000 auf. Mendling geht nach Berlin. Dort ist er seither als Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe in den Vivantes Kliniken Am Urban und im Friedrichshain tätig.
Mendling war zweimal verheiratet, er hat vier erwachsene Kinder. Seine zweite Frau Gabriela starb im März 2007. Nach dem Umzug nach Berlin im Jahr 2000 war ihr zweites Buch "OstWind" erschienen, in dem sie die negativen Reaktionen auf "NeuLand" beschreibt.
Ihre Frau, von Beruf Physiotherapeutin, war einverstanden?
Meine Frau war Westberlinerin. Wir hatten uns in Wuppertal kennen gelernt. Die Entscheidung für Frankfurt ist ihr nicht leicht gefallen. Sie hat immer von Berlin geschwärmt. Aber sie hat gesagt: "Wenn, dann machen wir das gemeinsam."
Wie war das bei anderen Paaren?
Ich erinnere mich an die Viadrina …
… die Europa-Universität in Frankfurt (Oder)…
Drei Professoren, alle über 50, haben abends in ihrer Wohngemeinschaft bei Rotwein und Zigarren gesessen. Ohne ihre Frauen. Die waren im Westen geblieben. Die eine wohnte in Hannover, die andere in Hamburg und die dritte in Berlin.
Wie erging es Ihnen?
Ich war in der Klinik medizinisch sehr anerkannt. Aber meine Frau - ein sehr sensibler, genau beobachtender Mensch - hat sehr gelitten. Sie hat nicht glauben wollen, wie sehr der alte Geist der DDR nach der Wende noch in Frankfurt tickte. Frankfurt war früher eine Stasi-Stadt. Die Parteischule der SED befand sich dort. Meine Frau hat über ihre Erlebnisse Tagebuch geführt. Wir hatten zufällig Kontakt zu Ulrich Wickert, dem Moderator der ARD-"Tagesthemen". Er hat das Tagebuch gelesen und ihr seinen Verlag empfohlen.
Das Buch mit dem Titel "NeuLand" ist 1998 unter dem Pseudonym Luise Endlich erschienen. Es handelt von ausgedienten NVA-Trainingsanzügen als Freizeitkleidung, dass Ihr Sohn in der Schule als "Wessi-Arsch" betitelt wird, dass Hausschuhe in ostdeutschen Wohnungen ein Muss sind und Handwerker eine Zumutung.
Es war bittere Satire. Neun Jahre nach dem Mauerfall hatte meine Frau einen Nerv getroffen, auch wenn es hier und da verletzend war.
Würden Sie retrospektiv sagen, Ihre Frau ist zu weit gegangen?
Vielleicht muss man auch verletzen, um die Wahrheit zu sagen. Das Buch war eine Woche draußen, da hat uns der Spiegel geoutet. Auch eine Freundin in der Stadt hatte geplappert. Dann ging die Hexenjagd los: Wir bekamen Drohbriefe, Morddrohungen, unser Auto wurde beschädigt. Die Situation für die Familie spitzte sich so zu, dass man es nicht mehr in Frankfurt aushalten konnte.
Wie reagierten Ihre Kollegen in der Klinik?
Ich wurde überraschend zu einer Chefarztkonferenz geladen, zu der aber nur die Hälfte der Chefärzte erschien. Im Nachhinein erfuhr ich, dass die, die fehlten, nicht unterstützen wollten, was dort passierte. Der Wortführer der versammelten Ärzte sagte: "Herr Mendling, wir haben hervorragend mit Ihnen zusammengearbeitet. Aber wir verlangen, dass Sie sich vor laufender Fernsehkamera von Ihrer Frau distanzieren. Ansonsten helfen wir Ihnen beim Kofferpacken." Wörtlich. Im ersten Schock fiel mir nur die Antwort ein: "Ich erinnere mich, dass sich Heinz Rühmann von seiner jüdischen Frau trennen sollte. Sind wir wieder so weit?" Danach war mir klar: Du musst hier weg. Ich habe mich dann in Berlin beworben.
Machen Sie den Frankfurtern einen Vorwurf?
Nicht kollektiv, aber wir haben den damaligen Geist in der Stadt unterschätzt und es fehlte dort an profilierten Persönlichkeiten. Doch jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich. Meine Frau war sicher eine empfindsame Persönlichkeit, sonst hätte sie nicht so pointierte Sachen schreiben können. Sie ist auch an der Pointierung ihrer Persönlichkeit gescheitert. Sie war sehr stolz und konnte keine Kompromisse machen.
Seit 2000 beziehungsweise 2001 leiten Sie in den Vivantes Kliniken Am Urban und im Friedrichshain als Chefarzt die Gynäkologie und Geburtsmedizin. Eine ehemalige West- und eine ehemalige Ostklinik also. Ist den Häusern davon noch etwas anzumerken?
Durchaus, obwohl die Kliniken nur sechs Kilometer voneinander entfernt sind. Im ehemaligen OstKlinikum Friedrichshain herrscht mehr Zucht und Ordnung, aber auch ein bisschen mehr Stil. Im Urban-Krankenhaus im westlichen Kreuzberg tickt der liberale Geist der Freiheit, der aber etwas chaotisch sein kann.
Und bei den Ärztinnen, Ärzten und Hebammen: Steht bei ihnen die Mauer in den Köpfen noch?
Seit mir die beiden Kliniken unterstehen, habe ich regelmäßig Mitarbeiter ausgetauscht. Ich habe das von Anfang an so gemacht, gelegentlich auch gegen den Willen der Beteiligten. Das war hart. Manche wollen nicht rüber. Das war bei beiden Seiten so, wobei aber mehr nicht von West nach Ost wollten. Einen Arzt habe ich mal gegen seinen Willen ein ganzes Jahr ausgetauscht.
Wie wird die Weigerung begründet?
Da wird mit althergebrachten Vorurteilen operiert: "Ich arbeite auf keinen Fall im Osten, oder umgekehrt im Westen. Punkt aus." Bei den Ärzten kann ich den Wechsel durchsetzen. Bei den Hebammen hat der Betriebsrat ein Wörtchen mitzureden. Das Ergebnis ist, dass bisher keine einzige Hebamme die Seiten gewechselt hat. Das könnte sich aber in allernächster Zukunft ändern. Wir arbeiten gerade in einer Projektgruppe an der Frage.
Warum sind Sie an dem Punkt so hinterher?
Bedingt durch meine persönlichen Erfahrungen versuche ich Brücken zu bauen. Einerseits um die medizinischen Unterschiede auszugleichen, andererseits um die Kommunikation und das Verstehen zu fördern. Beide Häuser können voneinander lernen. Ich sage das bewusst neutral.
Auch bei den Patientinnen gibt es Unterschiede?
Das Urban-Klinikum hat im Kreißsaal 60 Prozent Migrantinnen, davon 35 Prozent Türkinnen, circa 15 Prozent arabisch sprechende Menschen, 10 Prozent Asiaten, einige Englisch sprechende Leute. In Friedrichshain haben wir 20 Prozent Migrantinnen. Die Mehrzahl davon kommt aus den früheren Bruderländern der DDR. Vietnam, die ehemalige UdSSR, Angola und Mosambik.
Gebären türkische Frauen anders als deutsche?
Mediterrane Frauen haben eine ganz andere Art der Schmerz- und Konfliktbewältigung als deutsche. Auch der Familiensinn ist ganz anders.
Wie wirkt sich das auf den Klinikbetrieb aus?
Wenn eine Türkin im Urban-Klinikum entbindet, wird die Geburt in der Regel von mindestens fünf Personen begleitet. Die stehen den ganzen Tag vor dem Kreißsaal im Weg herum. Es darf ja nur einer rein. Die fünf wechseln sich dann alle zehn Minuten ab. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen und die Hebammen haben Stress.
Was ist mit den Kindsvätern?
Der Mann ist natürlich auch da. Es gibt unterschiedliche muslimische Bräuche. Einmal, als ich im Urban ganz selbstverständlich den Kreißsaal betreten wollte, stellt sich ein vielleicht 20-jähriger, schmächtiger Mann in die Tür: "Hier kommen Sie nicht rein." Ich war vollkommen perplex. "Warum denn?" Er sagt in gutem Deutsch: "Hier ist meine Frau drin." Ich sage: "Entschuldigung. Ich bin der leitende Arzt. Ich will nur sehen, wie es Ihrer Frau geht." Da ist er regelrecht frech geworden und hat mich rausgeschmissen.
Wie haben Sie reagiert?
Da kommt man schon in Konflikt: Sind wir hier in Deutschland mit den entsprechenden Regeln und setzen diese durch? Oder sind wir höfliche Gastgeber und tolerante Menschen und akzeptieren Bedürfnisse, die uns fremd sind?
Wofür plädieren Sie?
Meine Haltung ist, wir sind tolerante Menschen.
Wie schaffen Sie es eigentlich, in den Kliniken Am Urban und im Friedrichshain den Überblick zu behalten?
Ich bin in beiden Kliniken gleich häufig. Am Montag bin ich den halben Tag im Urban und den halben Tag in Friedrichshain. Dienstag und Mittwoch bin ich nur im Urban und Donnerstag und Freitag nur in Friedrichshain. Man kann das aber nur mit guten Mitarbeitern und verlässlichen Stellvertretern machen.
Warum wird ein Mann Frauenarzt?
Eigentlich wollte ich Chirurg werden. Ich operiere gern und bilde mir ein, das gut zu können. In Düsseldorf habe ich meine Doktorarbeit in Herzchirurgie gemacht. Nach den Operationen, die acht Stunden und länger dauern, hatte ich aber solche Rückenschmerzen, dass ich gedacht habe, das hältst du auf Dauer nicht aus. Du brauchst einen chirurgischen Beruf, bei dem du auch sitzen kannst. So kam ich auf die Frauenklinik. Weil viele Operationen durch die Scheide durchgeführt werden, sitzt man. Außerdem hat man in der Frauenklinik ein großes Spektrum. Mein eigentliches Fachgebiet ist die gynäkologische Infektiologie. Dazu kommt noch die psychosomatische Seite und die Geburten. Man hat also beides: Freude und Leid.
Wem man so wie Sie tausende von Kindern auf die Welt geholt hat, beeindruckt einen eine Geburt da noch?
Der bewegendste Moment für mich ist immer noch, wenn die Frau ihr Kind das erste Mal in den Arm nimmt. Wenn sie es im wahrsten Sinne des Wortes annimmt. Das geschieht fünf Sekunden nach der Geburt. Da kommen mir noch manches Mal die Tränen. Aber ich bin auch ein Mensch mit einer melancholischen Grundstimmung.
Was sind die schwierigsten Momente im Kreißsaal?
Wenn eine Frau anonym entbindet und das Kind zur Adoption freigibt. Das ist zum Glück äußerst selten der Fall. Oder wenn ein Säugling stirbt. Auch das kommt glücklicherweise nicht oft vor. Damit das Personal noch besser auf die Eltern eingehen kann, bereite ich gerade ein Symposium vor: "Geburt, Tod und Trauer im Krankenhaus aus Sicht der verschiedenen Religionen".
Was wünschen Sie sich für das Jahr 2009?
Zeit. Dass die politischen Rahmenbedingungen uns Ärzten ermöglichen, wieder Arzt zu sein. Dass man mal eine halbe Stunde am Bett eines Patienten sitzen kann, ohne ständig auf die Uhr gucken zu müssen.
Wo haben Sie heute Ihren Lebensmittelpunkt - in einem Ost- oder Westbezirk von Berlin?
In einem Westbezirk. Ich würde nicht noch mal in den Osten ziehen. Das hängt mit den Traumata zusammen, die ich in Frankfurt erlitten habe. Ich bemühe mich, es in meinem Berufsleben besser zu machen. Aber ich selbst kann das nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative