: Mongolei: Der Dollar wird zur nationalen Obsession
Die Öffnung nach Westen beschert den Mongolen seltsame Besucher ■ Aus Ulan Bator Simon Long
Der Mann ist nicht die Spur verwundert, als eines schönen Sonntagnachmittags plötzlich zwei westliche Journalisten vor seiner Jurte stehen. Die Mongolei, einst eines der isoliertesten Länder der Welt, kannte bis vor kurzem vor allem entnervte sowjetische und osteuropäische Besucher. Nun tauchen hier alle möglichen seltsamen Typen auf.
Er schenkt Schalen mit Kumis — fermentierte Stutenmilch — aus, die in einem Ledersack in einer Ecke des Zeltes vor sich hin gärt. Die Nachbarn sind aus ihren acht Kilometer entfernten Jurten herbeigeritten und sprechen diesem traditionellen Getränk der Gastfreundschaft unablässig zu.
Nach einer Weile gehen die Vorräte zur Neige. Nicht mehr ganz sicher auf den Beinen zieht er sein Gewand um sich, wurstelt an der großen orangefarbenen Schleife an seinem Bauch herum und stolpert hinaus zu seinen Pferden. Er überlistet eine Stute mit der Schnute eines durstigen Fohlens. Dann übernimmt er selbst und stellt die Kumis-Versorgung für den morgigen Tag sicher.
Das Zelt ist spartanisch eingerichtet — bis auf das buntbemalte Bett und den Schrank, auf dem das große Foto eines Jugendlichen in Armeeuniform steht. In einer Ecke steckt ein Schnappschuß des Dalai Lama, des geistlichen Führers der mongolischen ebenso wie der tibetischen Buddhisten. In der anderen eine Postkarte mit dem Abbild von Rambo. Im Radio spielt ein sowjetischen Sender Talking Heads.
Doch im wesentlichen hat sich der Lebensstil hier seit Hunderten von Jahren nicht geändert. Gut vierzig Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Ulan Bator, haben sich die Zeiten jedoch gewandelt: Die Stadt ist auf bizarre Weise kosmopolitisch geworden.
„Wir haben die Mongolei für alle geöffnet“, sagt der Sprecher des Außenministeriums, Terbisch Chimeddorj, mit mehr als nur einer Spur des Bedauerns in der Stimme. Kriminalität und Hooliganismus stiegen an, klagt er; und der US-Dollar, zu einer Parallelwährung neben dem rapide verfallenden Tugrik geworden, habe sich zur nationalen Obsession entwickelt.
Der Zusammenbruch der Einparteienherrschaft nach sowjetischem Muster im vergangenen Jahr, und der Schritt zur Öffnung der Wirtschaft zum Westen hat westliche Spätentdecker auf der Suche nach Exotik angelockt.
Zu ihnen gehören auch die Rucksacktouristen. Ihr Doyen ist zweifellos Heinz, deutscher Radfahrer, seit 28 Jahren schon im Sattel. Die Mongolei ist das 171. Land, das er bereist. Fehlen nur noch vier: Nord- Korea, Angola, die Komoren und Sao Tome.
Dann sind da die Christen, schrecklich nette Leute und überraschend zurückhaltend, wenn das Gespräch auf ihre Berufung kommt. In der nördlichen Stadt Moron, dessen 5.000 BewohnerInnen in Zelten und Holzhäusern mitten in weiter Landschaft leben, warnt der verbindliche junge Mann, der eine Gruppe von acht Evangelisten anführt: „In zwei Jahren werden wir überall in dieser aimag (Provinz) vertreten sein.“
Doch der Kampf wird nicht einfach für die Bibel. Das Lamakloster von Moron war bis vor einem Jahr eine filzgedeckte Jurte. Nun sind die Wände verputzt, und safrangewandete Mönche intonieren allmorgendlich ihre Gebete. Die meisten sind entweder sehr alt oder sehr jung, eine Erbschaft der sechzig Jahre währenden Unterdrückung des Buddhismus. Die Gläubigen hingegen, die ihre Opfergaben bringen und sich beim Umschreiten des Zeltes auf den Boden werfen, kommen aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen.
Und dann gibt es da die „Berater“. Smart gekleidete Banker, Entwicklungshelfer und junge Universitätsabsolventen, die der Mongolei erklären, wie sie auf schnellstem Weg zum Markt kommt. „Ich bin besoffen von diesem Land“, sagt ein Banker, der die Staatsbank in puncto Privatisierung berät. Im Hotel in Ulan Bator schwankt er auf dem Barhocker, streut Zigarrenasche über die Prostituierten an seiner Seite und verkündet: „Dies wird ein neues Hongkong, ein neues Kuwait.“
Und dann sind da noch die Händler — Chinesen, Japaner, Polen und ein paar Amerikaner. Alle sagen, hier gebe es ein riesiges Potential, bestreiten aber, selbst daran zu verdienen. Unterdessen sind die Läden leer. Das Gerücht, daß eine Ladung südkoreanischer Anzüge in der Stadt eingetroffen sei, brachte an einem Nachmittag Ende August ganz Ulan Bator zum Stillstand.
Einen weiteren Blick auf den Westen können die Mongolen durch Videofilme erhalten. Meistens fällt lange vor Programmende der Strom aus, und die Leute gehen zu Fuß nach Hause, weil die Oberleitungsbusse auch gestrandet sind. Vorvergangene Woche zeigte ein Videoklub in Ulan Bator den Letzten Tango in Paris, Innerspace (in dem einer neurotischen Verkäuferin der auf Miniaturgröße geschrumpfte Dennis Quaid in den Hintern injiziert wird), und einen deutschen Softporno, der vorwiegend oralen Sex mit reichlich Schlagsahne darbot.
Wenn die Mongolei exotisch scheint, was denken dann die Mongolen wohl von uns?
Glücklicherweise ist die mongolische Elite weit gereist und fähig, diese Schocks zu verkraften. Und die Öffnung zum Westen erfolgt teils gerade in Zurückweisung der ausländischen Dominierung durch die beiden riesigen Nachbarn — die Sowjetunion und China. Eine Wiedergewinnung der Traditionen begleitet sie. Die Mongolen haben ihre Religion und Teile ihrer Geschichte zurückerhalten und sollen bis 1994 ihre Sprache oder zumindest ihre Schrift wiederbekommen, die vor vierzig Jahren durch das kyrillische Alphabet ersetzt wurde. Dafür sind wohl die paar merkwürdigen Ausländer kein zu hoher Preis — vor allem, wenn sie in Dollar zahlen.
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