Mon Dieu Mondial: Die Zeit der Mythen
■ Afrikaner sind verspielt, der Deutsche gibt nicht auf, und das erste Spiel endet immer 0:0
Tja, wir haben es ja schon immer gewußt: Eröffnungsspiele sind einfach lahm, egal, ob nun Brasilien gegen Schottland spielt, Deutschland gegen Bolivien oder, irgendwann in ferner Zukunft, die Mongolei gegen die Turks- und Caicos-Inseln. Torrekord der letzten 30 Jahre sind zwei Treffer beim 1:1 zwischen Italien und Bulgarien in Mexiko 1986. Es spricht nichts dafür, daß es heute abend irgendwie anders läuft. Wenn doch, macht es auch nichts: Mythen sind unverwüstlich.
Da gibt es zum Beispiel jene Mär, daß immer eine Mannschaft von dem Kontinent Weltmeister wird, auf dem die WM stattfindet. Längst von Brasilien in großem Stil unterwandert, und zwar bereits 1958. Aber wer wird sich von solchen Kleinigkeiten beirren lassen.
Genauso hartnäckig der Mythos vom Schwarzafrikaner, der dem Turnierstreß einfach geistig nicht gewachsen ist und von taktischer Disziplin ohnehin nichts hält. Wenn doch, dann funktioniert immer noch das alte Glasperlenspiel. Sie denken eben nur an Geld und Goldkettchen, diese Kameruner oder Ghanaer oder Kongolesen, und gewinnen deshalb keinen Blumentopf. Ähnlich verhält es sich mit den Brasilianern. Die gewinnen zwar, aber nur, weil sie sich die berühmten europäischen Tugenden zu eigen machen, ohne die man angeblich im Weltfußball nicht erfolgreich sein kann. Verlieren sie allerdings, wie in Italien 1990, dann haben sie ihren ureigenen Stil verraten, was mit Vorliebe Ex- Stars wie Pelé geißeln, die heute so tun, als hätten sie 1958 und 1970 ohne Abwehr gespielt.
Fast jedes Land schleppt seinen Mythos mit sich herum, sogar die USA. In keinem Artikel fehlt das zehn Jahre alte Verdikt aus USA Today, daß Fußballhaß genauso amerikanisch sei wie Apfelkuchen. Der Satz stimmte schon damals nicht, und heute ist er so unsinnig wie die Behauptung, niemand in den USA habe sich für die WM 1994 interessiert. Dennoch tauchen beide Postulate so sicher auf wie das Om im Mantra. Bei den Arabern rennen gern die Scheichs auf den Platz, und für die Tore kriegen sie Kamele, die Jamaikaner kiffen und sind alle Engländer, am übelsten aber erwischt es die Kolumbianer. Alles Drogenkriminelle, die lausige Friseure haben, und wenn sie einen Fehler machen, werden sie abgemurkst. Die Ermordung des Eigentorschützen Andres Escobar dient als ultimativer Beweis, auch wenn die Untersuchungen ergeben haben, daß sein Tod wohl eher nichts mit dem Fauxpas im Spiel gegen die USA zu tun hatte. Aber es klingt eben viel besser, wenn man einen Killer präsentiert, der die tödlichen Schüsse mit dem Ruf „Gooooooooool“ begleitet? Schließlich wußte schon James Stewart, der Liberty Valance nicht erschoß, daß manche Legenden selbst die Wirklichkeit an Wahrheit übertreffen.
Der absurdeste aller Mythen ist einer, der von deutschen Bundestrainern mit Vorliebe gepflegt wird. „Mit elf Beckenbauers kannst du kein Spiel gewinnen“, sagte Helmut Schön, seine Nachfolger variierten den Satz meist unter Verwendung des Namens Maradona. Die Treter und Terrier des Rasens verwenden die Behauptung gern zur Rechtfertigung ihrer eigenen miesen Existenz, nichtsdestotrotz ist sie purer Quark. Elf Maradonas würden selbstredend jedes Spiel gewinnen, und zwar dreistellig.
Man darf gespannt sein, welche neuen Mythen die WM in Frankreich gebiert. Mit ziemlicher Sicherheit den, daß mit Effenberg und ohne Matthäus alles gut gewesen wäre, daß die Dänen vorher besser Urlaub gemacht hätten, die Afrikaner ihre afrikanischen Tugenden nicht ausgeschöpft haben und „der Deutsche“ nicht einmal aufgibt, wenn alles vorbei ist. Und dann natürlich das Eröffnungsspiel. Welch gräßliche Langeweile! Matti Lieske
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen