Mon Dieu Mondial: Nachtsicht
■ Endspielerlebnis auf den Schienensträngen und Fernsehfußball mit Mephistopheles
Ich arbeite genau seit der WM 1982 als Nachtwächter. Ich war damals blank und suchte, weil das Zeilengeld vom Stadtmagazin Marabo so zäh floß und die sporadischen Plattenkritiken im Musik Express kaum was einbrachten, einen regelmäßigen Job, bei dem ich nebenher schreiben konnte, vor allem meinen ersten Roman. Ich weiß es noch wie gestern: meine erste Schicht absolvierte ich an dem Freitag vor dem WM-Finale in der Ruhrlandhalle. Eine Woche vorher hatte im benachbarten Novotel der Theaterkritiker der Zeit, Benjamin Henrichs, im Schatten der Flutlichtmasten des Ruhrstadions seine berühmten Betrachtungen zu dem berüchtigten Spiel gegen Österreich angestellt.
Samstags mußte ich nach Frankfurt, um auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle den Sänger Markus (“Ich will Spaß“) für eine Titelstory in ME zu interviewen, sonntags den nicht minder erfolgreichen Hubert Kah in Reutlingen. Im Hotel Jaguar gab's kein Frühstück, und die Zimmer hatten keinen Fernseher, nur der Aufenthaltsraum, wo ich nach meinem Treffen mit dem sympathischen Markus das erwartungsgemäß langweilige Spiel um den dritten Platz zwischen Polen und Frankreich sah.
Sonntags fuhr ich über Stuttgart in die tiefste Provinz, um Hubert auf den Zahn zu fühlen. Das gelang mir in diesem altmodischen Café mit dem pißwarmen Bier im Ausschank, das Gott sei Dank Herr Kah bezahlte. Aber wo sollte ich das Endspiel verfolgen? Er lud mich nicht zu sich ein, und bis Bochum war es weit.
Anders als heute verfügten die größeren Bahnhöfe noch nicht in ihren Foyers über Videoleinwände, auf denen neben Eigenlob auch TV-Sendungen übertragen werden. Ich setzte mich also nachmittags in einen der ICs, die damals noch geradeaus fuhren. Im Grunde war ich schon kein großer Fan mehr und hatte im Jahr davor meine eigene 20jährige Karriere als linker Verteidiger beim SuS Wilhelmshöhe drangegeben, nachdem täglich sechzig Benson & Hedges den Krieg gegen meine Lunge gewonnen hatten. Aber natürlich hätte ich mir gern dieses Spiel angesehen, um die deutschen Krücken mit dem ehemaligen Kommunisten Paul Breitner an der Spitze beim Verlieren zu erleben.
So döste ich in meinem Abteil vor mich hin und hörte in jedem Bahnhof das Zwischenergebnis aus den Lautsprechern, bis in Köln der Endstand durchgesagt wurde. Ich empfand eine klammheimliche Freude. Das war, anders als 66 und 70, nicht meine Mannschaft.
Die folgende WM erlebte ich auch als Portier, meine Lebensstellung, wie es scheint. An dem Abend, als Deutschland in Mexiko gegen die Gastgeber spielte, war ich in der Ruhrlandhalle, um den Gala-Abend der Tanzschule Bobby Linden mit Hugo Strasser zu bewachen. Ein Verzehrbon über fünf Mark war ein schwacher Trost, das Elfmeterschießen verpaßt zu haben.
90 – mein Roman war inzwischen fertig, veröffentlicht und verramscht – war ich immer noch Nachtwächter. Ich sah das Finale in meiner Loge im Rathaus. Als ich anschließend rausging, um meine Runde zu drehen, rannten Tausende von entfesselten jungen Leuten durch die Gegend, und eine Straßenbahn, die vorbeifuhr, hatte eingeschlagene Fenster.
94 saß ich schon hier im renommierten Schauspielhaus und amüsierte mich mitten in der Nacht über die Fehlgriffe des Bodo Illgner. Mittlerweile bin ich immer noch hier, und manchmal gucken mir Mephisto und Mäckie Messer über die Schulter. Gespannt bin ich, wo ich die nächste Weltmeisterschaft sehen werde. Benjamin Henrichs ist auch nicht mehr bei der Zeit. Wolfgang Welt
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