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■ Mögliche OrteMit Lilly im Parkett

Tante Lilly klatscht in die Hände. „Obberrädde! Da froi isch misch.“ In Tante Lillys hessischer Kleinstadt gibt es nämlich kein Theater. Wenn „die Paula“ mal in die Stadthalle zu einer Aufführung geht, spielen Tournee-Theater Verabscheuungswürdiges wie „Falstaff“, einen Shakespeare- Verschnitt für die Provinz. Obwohl „die Paula“ ihre Zwillingsschwester ist, nimmt sie Lilly nie mit ins „Deader“, weil die Lilly sich manchmal danebenbenimmt. Dann schämt sich Paula, und Lilly schämt sich auch, denn Tante Lilly ist fast blind.

Den Weg zum Metropol- Theater legen wir Hand in Hand zurück. Wobei Tante Lilly, obwohl kugelrund, drei Köpfe kleiner und des Ziels nicht inne, mich hinter sich herzerrt, mehr als ich sie führe. So überwinden wir den Hindernis-Parcours aus Baustellen und Absperrgittern rund um den Bahnhof Friedrichstraße. Stolpernd laufen wir im Theater ein. Tante Lilly ist begeistert von den Lichtern im Vorhof und dem Foyer.

„Schee“, sagt sie und singt wieder: „Trinke Liebchen, tri- hi-nke mein...“, was zwar nicht wirklich aus dem „Bettelstudent“ stammt, um den es heute gehen soll, das macht aber nichts, schließlich ist Lilly eine Stütze der „Aindrachd“, des Gesangsvereins bei ihr daheim. Und wer legt sich schon mit Experten an? Zumal mit Tante Lilly, die dann leicht ungehalten wird und abwinkt oder weint. Aber jetzt weint sie nicht, sondern scharrt ungeduldig mit den Füßen. Gelegentlich hebt sie ihre Uhr an die Augen und verkündet, daß es „glai losgehd“.

Das tut es dann auch, indem das Orchester des Hauses präludiert zur 60. Vorstellung des „Bettelstudenten“ seit Weihnachten 1993. Auf der Bühne wogt es gleich recht animiert und operettig, denn die Szene ist ein Wirtshaus in Krakau 1704. Worin sich Sachsen und Polen kabbeln und verkleidete polnische Wirtstöchter als sächsische Offiziere reüssieren, mit Hackenknallen und Augenverdrehen, daß es eine Art hat. „Ist das ein Faß?“ fragt Tante Lilly, als ein Faß auf die Bühne gerollt wird. „Ja, ein Faß.“ Dann freut sich Tante Lilly, weil sie wieder etwas erkannt hat. Und freut sich immer mehr, wenn die prachtvollen Kostüme über die Bühne stieben, mit dem Ballettcorps darinnen oder dem Chor.

Aber natürlich wartet Lilly und mit ihr die vielköpfig erschienene Abordnung der „Gemeinschaft fortschrittlicher Möbelhersteller“ aus Bayern auf die Glanznummer in Millöckers Schlagerrevue. „Ich hab' sie doch nur auf die Schulter geküßt“, singt ein imponabler Oberst Ollendorf mit Schmackes und Stiefelgestampf. Die Tante Lilly beäugt ihn selig von unten her, die Bayern vor uns applaudieren frenetisch, und wir staunen über die behende Wandlung der Operette zum Agitprop: „Die Gesinnung streicht man glatt / Falls man eine hat / ... / Die Künstler sind ganz ratlos / Was will denn der Senat bloß? / Laßt die Theater leben! / achtgeben!“

Dann bewundern wir den Schmerbauch des angeblichen Bettelstudenten. Angesichts dieser Unterwanderung der Rolle durch den Darsteller, an der die ebenso schnarrende Sopranistin wie der schwammige Tenorbuffo teilhaben, schwimmen halbvergessene Satzfetzen in unser Bewußtsein: „Die Operette träumt davon, daß jeder einzelne ein Ganzer sei“, und wir erinnern uns des Karl-Kraus-Diktums im Programmheft, von der „Heiterkeit, die in diesem Wirrsal ein Bild unserer realen Verkehrtheiten ahnen läßt“. Dann fällt der Vorhang zur Pause, und alle Möbelhersteller wollen Bier trinken.

Wir sitzen wieder und träumen noch, als uns völlig unerwartet das Glück begegnet. Auf der Bühne sind die verfressene Adelstochter und der heimliche Revolutionär aneinandergeraten. Wie süß erhebt sich da mit einem Mal die Melodei: „Liebe mich, liebe mich...“ und wir haben Mühe, die Tränen der Rührung zu unterdrücken, die uns in die Augen schießen wollen: Das ist ja wunderschön! Auch die anderen Sänger haben jetzt Pflaumenmus auf der Stimme, und wir geben uns inmitten all dieses Schwachsinns auf der Bühne der Musik hin.

Danach konnte uns nicht einmal mehr der Versuch der bayerischen Möbelmenschen verstimmen, durch rhythmisches Klatschen ein wenig Bierzeltatmosphäre herzustellen. Wir sind mit der Lilly heimgegangen, haben genickt, als sie sagte, daß die wirkliche „Obberrädde“ viel schöner sei als die im Fernsehen, und uns geschworen, nie wieder lästerlich über das Metropol-Theater, seine Künstler und seine Besucher zu sprechen. Nikolaus Merck

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