Moderator Birand Bingül: "Raus aus den Teestuben!"
Die Deutschtürken brauchen eine Doppelstrategie, sagt Bingül. Offensives Auftreten in der Mehrheitsgesellschaft, volles Wahlrecht - und: Schluss mit den Lebenslügen.
taz: Herr Bingül, Sie haben im Frühjahr für Aufsehen gesorgt, als Sie unter dem herausfordernden Titel "Deutsch-Türken, kämpft selbst für eure Integration!" einen Text veröffentlichten. Was hat es damit auf sich?
Birand Bingül: Oft wird in Deutschland diskutiert: Was muss die deutsche Seite alles tun, damit die Türken besser integriert werden? Was muss Deutschland den Türken abverlangen? Müssen wir mehr soziales Engagement aufbringen? Und auf der türkischen Seite haben wir verschiedene Verbände und muslimische Organisationen, die sehr umfangreiche Forderungen stellen und ihre Position in den Medien, in den Communities darlegen. Ich hatte einfach die Idee, was ist denn mit den Leuten selbst, außerhalb von den Verbänden?
Wieso bezeichnen Sie diese als Deutschtürken und nicht als Türken?
Ich glaube, den Türken in Deutschland gibt es gar nicht mehr so. Viele sind schon seit 40 Jahre in Deutschland - und das hat die Türken verändert. Sie sind vielleicht nicht zwingend alle Deutsche geworden, aber "Deutschtürke" gibt ganz gut wieder, dass man eine hybride Form hat, eine Form, die sich vielleicht im Politischen nicht widerspiegelt - es gibt ja wenige Leute, die zwei Pässe haben -, aber es gibt viele Leute mit dieser gemischten Identität. Für mich persönlich ist es eher ein Gewinn als ein Malus. Und deswegen habe ich diesen Begriff sehr konsequent durchgezogen.
Wie soll man sich diese Selbstintegration vorstellen?
Nehmen Sie den Bildungsbereich: Warum gibt es Minderheiten, die unheimlichen Wert auf Bildung legen, und andere Minderheiten wie die deutschtürkischen, die das bisher nur sehr wenig tun? Es hat jetzt angefangen, dass engagierte Eltern - ob mit oder ohne Kopftuch - darauf achten, was in der Schule mit ihren Kindern passiert, die verstehen, dass sie hier eine Chance erhalten, es aufs Gymnasium zu schaffen, eine Ausbildung zu bekommen oder vielleicht sogar zu studieren. Es gibt eine ethnische Bildungsschere. Jeder zweite 15-jährige Deutschtürke besucht die Hauptschule, jeder fünfte schafft keinen Abschluss, jeder dritte zwischen 25 und 35 hat keine Ausbildung. Manche sprechen schon von einer verlorenen Generation.
Aber das liegt ja wohl nicht nur an den Eltern?
Die verschiedenen Schulstudien haben gezeigt, dass Migrantenkinder benachteiligt sind, systemisch. Auf der anderen Seite hat es aber auch damit zu tun, dass die Eltern zu wenig kapiert haben, dass das der Schlüssel ist, um in Deutschland anzukommen und qualifiziert mitmachen zu können.
Aber damit man diese Aufstiegs-, diese Leistungsperspektive hat, muss man ja mental bereits angekommen sein - so denkt man nicht mit einer anatolischen Mentalität.
Ja, aber wenn wir über die jungen Leute reden, die sind ja in dieser Gesellschaft geboren. Warum sollten sie nicht auf die Idee kommen, dass es Sinn hat, sich anzustrengen? Das kann ich eigentlich nicht gelten lassen.
Das aber würde heißen, dass diese jungen Leute, die zweite oder dritte Generation, ihre Identität aus deutschen, europäischen Parametern beziehen. Aber gibt es da nicht auch eine sehr starke religiöse Prägung?
Ich glaube, der Islam wird von Deutschen und Deutschtürken heute nur viel mehr wahrgenommen als zuvor. Die religiösen Organisationen sind die größten in Deutschland und deswegen zu politischen Ansprechpartnern geworden. Warum sind die türkisch-religiösen Organisationen so viel in den Medien? Weil es kaum andere, normale, säkulare Organisationen gibt. Die religiösen Organisationen haben ihren Zulauf vor allen Dingen in den 90er-Jahren gehabt, durch die rechtsextremen Ereignisse von Solingen, Mölln und Hoyerswerda. Da haben sehr viele - auch ich, meine Eltern, meine Familie - sich gefragt: Was sagt uns das über unseren Stand in Deutschland? Da hat es einen Backlash gegeben, und viele Deutschtürken sagten, ich muss mir jetzt einen anderen Halt suchen, und das waren eben diese religiösen Organisationen.
Was bedeutet das aber für die Selbstintegration, die sie fordern? Wann integriert sich beispielsweise eine Türkin? Wenn sie das Kopftuch ablegt oder wenn sie mit dem Kopftuch beruflich tätig ist?
(Lacht) In der besten aller Welten muss sie das Grundgesetz als solches anerkennen, in der besten aller Welten ist es auch schön, wenn sie arbeitet. Aber - Kopftuch abnehmen oder nicht - das kann man, finde ich, nur im Einzelfall entscheiden. Je nachdem, ob das bei der einzelnen Person ideologisch so aufgeladen ist, dass das ein Problem darstellt, oder nicht.
Aber wie verträgt sich das mit Ihrer Forderung, die Leute sollen die hier vorherrschenden Werte übernehmen? Ist das nicht ein Konflikt?
Ja, solche Konflikte sehen wir tagtäglich. Ich denke aber, dass sich hier auch die andere Seite, die österreichische, die deutsche, ändern und offener werden muss und nicht mehr bei jeder Moschee fragt: Ist das eine Terrorzelle? Wir brauchen einen Prozess der Öffnung in beide Richtungen. Und für mich gehört da das Wahlrecht absolut dazu. In Deutschland fordern mittlerweile immer mehr Politiker, das kommunale Wahlrecht einzuführen. Wobei ich nicht verstehe, warum man nicht über Landes- und Bundeswahlrecht sprechen kann. Das macht die Leute zu Bürgern, nichts anderes. Das wäre ein ganz wichtiger und völlig unterschätzter Schritt, die Leute hier einzubinden.
Sie haben in Ihrem Text eine Zwei-Fronten-Auseinandersetzung gefordert. Nach außen, gegen die Mehrheitsgesellschaft, fordern Sie: Heraus aus den machtlosen Integrationsräten, hinein in die Mitte der Politik!
Die Integrationsräte sind schön und gut, aber sie haben keinen großen Einfluss. Motto: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, bild ich einen Arbeitskreis - etwa einen Arbeitskreis Integration - und strample mich da ab. Wenn man immer nur als Minderheitenverband auftritt, dann bleibt man in der Defensive.
Wo wäre es denn effektiv?
Im Mainstream. Rein in die SPD, rein in die CDU, und dann muss man sich eben auch auf dem richtigen Politmarkt durchsetzen, um dahin zu kommen, wo man auch mitsprechen kann.
Und wie ist Ihrer Meinung nach die Auseinandersetzung nach innen zu führen?
Die meisten Leute, die sich in diesem Feld engagiert haben, haben immer Forderungen an die deutsche Seite gestellt. Das ist legitim. Aber was bis jetzt äußerst wenig gemacht wird, ist, dass Deutschtürken auch nach innen einige klare und reduzierte Botschaften senden. Ich habe das so formuliert: Runter von der Straße! Raus aus den Teestuben! Ran an die Schulen!
Steht die Teestube hier für die Türkei-Idylle in den deutschen Städten?
Ich war gerade in der Türkei, und etliche Leute haben mich gefragt: Wie ist das denn mit den Türken in Deutschland, die sind ja so ein bisschen zurückgeblieben. Sie haben einfach eine Türkei der Sechziger konserviert, denn das war das Leben, das sie gekannt haben. Das haben sie mit nach Deutschland gebracht und so beibehalten. Jetzt sind diese Dörfer in die deutschen Städte verpflanzt, während jene in der Türkei 40 Jahre Zeit hatten, sich zu entwickeln. Deswegen glaube ich auch keinem jungen Deutschtürken, der hier geboren ist und der sagt: Ich bin Türke, ich habe mit Deutschland nichts zu tun. Das ist eher eine Provokation, ein Hilferuf.
Was würden Sie ihm denn sagen, dem jungen Burschen?
Ich würde ihm sagen: Warst du schon in der Türkei? Kannst du dir vorstellen, in der Türkei zu leben? Kannst du überhaupt vernünftig Türkisch? Ich gehe davon aus, dass die schon in der Türkei waren, bei den Türkischkenntnissen würde ich ein großes Fragezeichen machen. Und dass Leute von hier zurückgehen, die nicht gut ausgebildet sind, die in der Sprache nicht ganz firm sind und die die Gesellschaft dort nicht kennen, die eine viel rauere ist als die hiesige, dass die dort irgendeine Chance hätten, da habe sehr, sehr große Zweifel. Wer es schafft, zurückzugehen oder in beiden Ländern unterwegs zu sein, das sind eher die gut Qualifizierten. Insofern sage ich ihnen: Vergesst diese Illusionen, ihr seid beides am Ende des Tages, Deutschtürken, und das muss man akzeptieren. Das heißt nicht, seine Herkunft zu verleugnen. Aber jene, die sagen, wir sind Türken, die wenden sich einfach nur ab. Man muss aber beide Identitäten zusammenkriegen.
INTERVIEW: ISOLDE CHARIM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo