: Mode und Moos
Wenn einem das Künstliche als das einzig Wirkliche verkauft wird, sollte man aufpassenDAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN
Irgendwo zwischen Belustigung und Entsetzen bewegte sich der Gesichtsausdruck deutscher Touristen, die – eben noch große Fans des orientalischen Basarsystems – gerade herausgefunden hatten, woher die alten Sachen stammten, die sie als Schnäppchen aufs Hotelzimmer zu schleppen gedachten. Aus den Hinterhöfen der Basarläden nämlich. „Und da hämmert ein alter Mann auf einen glänzenden Kupferkessel ein. ‚Was machen Sie da?‘, fragte ich, und er: ‚Alte Dinge.‘ “ Vor einem anderen Geschäft lagen Teppiche aus, die erst wertvoll wurden, wenn genug Leute darauf herumgetrampelt waren.
Eine Form von Betrug, insofern die Touristen den authentischen Zahn der Zeit und nicht die Fußspuren ihrer Mitreisenden zu erwerben meinten. Hier und heute hingegen sind unsere Inneneinrichtungs- und Nippesläden ganz offiziell bevölkert von brandneuen Emaillekrügen, von denen bereits die Farbe abblättert, von Terrakottatöpfen, in der Fabrik extra unregelmäßig geformt und mit künstlichem Moos überzogen, und gusseisernen „viktorianischen“ Garderobenleisten, Baujahr 2006.
Man nennt Derartiges vintage, shabby chic oder antik style. Das Wörtchen „style“ zeigt an, dass das Ding nicht wirklich antik ist, sondern nur so tut. Es ist also nicht bloß in Form und Stil einer guten alten Zeit nachempfunden, sondern der betreffende Gegenstand zeigt auch die Gebrauchsspuren, die es hätte, wenn es tatsächlich seitdem in Gebrauch gewesen wäre (und überhaupt existiert hätte): Dekor im Konjunktiv Irrealis. Wolfgang Ullrichs kleiner Konsumgeschichte „Haben wollen“ ist zu entnehmen, dass es einst ein Zeichen von Vornehmheit war, alte Möbel sein Eigen zu nennen, auf denen schon die Vorfahren gesessen, geschlafen und gespeist hatten. Wer solche Möbel besaß, besaß logischerweise auch eine Familie, einen Namen, eine Tradition der Respektabilität. Mit dem bürgerlichen Zeitalter änderte sich die Beweislast, die die persönlichen Besitztümer zu erbringen hatten. Nun wollte man zeigen, dass man zu Geld gekommen war – erben kann jeder, ich verdiene selbst! – und es sich leisten konnte, etwas Neues anzuschaffen.
Vermutlich haben beide Formen – also das Bewahren und Vorzeigen des Alten wie auch das Anschaffen und Vorzeigen des Neuen – lange Zeit nebeneinander existiert. Es kann schließlich nicht schaden, wenn man selber gut verdient UND der Großvater bereits Vermögen hatte. Und doch glaube ich: In dem momentanen Nebeneinander von shabby chic und ipod shuffle hat das Konsumversprechen einen neuen Höhepunkt erreicht. Denn anders als für den Menschen gilt für den Konsum ja nicht: Versprechen muss man halten, sonst wird einem nicht mehr geglaubt. Nein, irgendwie hat sich der Kapitalismus ein Glaubwürdigkeitsschlupfloch aufgestemmt und lässt uns weiterhin ein trügerisches Ding nach dem anderen kaufen.
Daher brauchen sich auch die Vintage-Produkte kein bisschen zu schämen, dass sie nichts von dem vorzuweisen haben, was die Attraktivität eines antiken Gegenstandes eigentlich ausmachen soll: das schöne Wissen, dass die eigene Großmutter schon mit genau diesem Nähkästchen herumgewerkelt hat. Oder zumindest das Wissen, dass irgendeine Omi darin ihre Knöpfe aufbewahrt hat! Schließlich die Idee, Material zu schonen und weiter zu benutzen, was noch funktioniert. Mit shabby chic verhält es sich geradezu umgekehrt: Man wirft das inzwischen aus der Mode gekommene Ding, das ungefähr ein Jahrzehnt auf dem Buckel hat, weg, um sich ein neueres anzuschaffen, das mit einem angeblich noch viel älteren Buckel prahlt.
Völlig unlogisch, oder? Aber man will sich ja nicht mit Reparieren, Streichen oder Umarbeiten aufhalten, sondern unbedingt ein pfiffiger Einkäufer, ein raffinierter Kunde, ein schlauer Geschäftemacher sein! Man will Schnäppchen jagen und sich nachher auf die Schulter klopfen, dass man viel für wenig erstanden hat. Slogans wie „Geiz ist geil“ und „saubillig“ bringen nur auf den Punkt, was unser Kaufverhalten libidinös längst antreibt. Darum ist es unter Freundinnen Usus, einander abends anzurufen und im Abenteuererzählmodus zu berichten: „Ich hab mir heute ein Paar Wildlederstiefel gekauft. Ursprünglich kosteten die 280 Euro. Und jetzt rat mal, für wie viel ich die gekriegt habe …“
Oder nehmen wir ein Beispiel mit anderem Gender-Hintergrund: Man braucht einen Pinsel, Stärke soundso. Eher kauft man im Baumarkt ein Fünfer-Set drittklassiger Pinsel für 3 Euro, als den einen, passenden Pinsel in guter Qualität, aber für fünfzig Cent mehr. Mit dem Fünfer-Set hat man den Eindruck, einen viel besseren Schnitt gemacht zu haben, obwohl man zwei der anderen Pinselgrößen bereits besitzt, zwei weitere garantiert nie braucht und allen fünfen noch in der Verpackung die ersten Haare ausfallen.
Die Vintage-Mode ist die paradoxe Kombination aus diesem Wunsch, die quasi frisch vom Fabrikband preiswert weggeschnappte Beute in die heimatliche Höhle zu schleppen, und der genau umgekehrten Sehnsucht, mit früheren, langsameren, vermeintlich verträumteren Zeiten in Berührung zu treten. Warum für uns aber schon ein künstlich auf alt getrimmtes Ding einen Hauch davon besitzt, lässt sich wohl nur so erklären, dass wir gar nicht mehr an irgendetwas Authentisches glauben, das zu einer anderen Zeit oder unter anderen, günstigeren Umständen existierte oder das echter Bewunderung, Sehnsucht oder Nostalgie wert wäre. Wir denken nur noch an das Klischee, ans Abziehbild, und geben uns mit ihnen als Garanten fürs Romantische zufrieden.
Diese Einstellung ist nicht unbedingt ein Zeichen von kritisch geschärftem Bewusstsein, sondern auch einfach von Phantasie- und Achtlosigkeit. Und obwohl wir von Adorno gelernt haben, an allem Authentischen zu zweifeln, muss man doch ebenso sehr auf der Hut sein, wenn einem das Künstliche als einzige Wirklichkeit verkauft werden soll. Denn plötzlich wird man mit der Nase auf etwas Ungekünsteltes gestoßen, begegnet einem das Authentische in völlig profanem Zusammenhang – unbekümmert von unseren abgebrühten Grübeleien hat es da die ganze Zeit vor sich hin gelebt.
Ich selbst kaufte mir für den Garten eine Terrakottaschale, die mit wunderschönem Moos überzogen war. Fand ich jedenfalls, bevor ich einen Garten hatte. Kaum hatte ich einen und die Schale auf die dazugehörige Terrasse gestellt, zuckte ich zusammen, in ähnlicher Gemütsregung wie einst der Orient-Tourist: Halb musste ich lachen, halb war ich entsetzt. Der Gegensatz zwischen fabrikmäßigem und echtem Alterungsprozess war einfach zu grotesk. Ein Holunderbaum senkt seine knorrigen Äste über das Mäuerchen. Hier und dort fehlt die Ecke von einem Ziegelstein. Die Terrassenplatten selbst sind von sattem Moos bedeckt, neben dem das künstliche ungefähr so lieblich wirkt wie die Oberfläche eines Modelleisenbahnhügels. – Trotzdem habe ich die Schale erst einmal stehen gelassen, in der Hoffnung auf einen pädagogischen Effekt.