: Mitten im Schrecken
Zahlreiche Autoren reisten von 1933 bis 1945 ins Nazi-Deutschland. Eine schöne Auswahl ihrer Reportagen hat Oliver Lubrich gesammelt
VON RENÉE ZUCKER
Es geht also um den fremden Blick. Der fremde Blick auf Deutschland in der Zeit unter den Nazis und danach. Wir haben diesen Blick schon einmal in einem wundervollen Buch der „Anderen Bibliothek“ genossen: in Steffen Radlmaiers Sammlung über den Nürnberger Lernprozess. Nun hat sich der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich daran gemacht, Texte ausländischer Autoren über das Deutschland zwischen 1933 und 1945 zu veröffentlichen.
Große Namen sind hier zu finden: Christopher Isherwood selbstverständlich über Berlin, Samuel Beckett aus Hamburg, Braunschweig und Berlin, Karen Blixen überrascht mit ganz eigenen Assoziationen, als sie aus Berlin und Bremen berichtet – das Organisationstalent der Nazideutschen erinnert sie an das volkswirtschaftliche System, mit dem in Tibet Yaköl-Lampen vertrieben werden; die Aggressivität der Nazi-Überzeugung vergleicht sie mit der frühen Verbreitung des Islam.
Thomas Wolfe, gerade auf dem Zenit seines Ruhms – sowohl Nazis wie Regimegegner lieben „Schau heimwärts, Engel“ –, ist sowohl dem Land wie den Leuten wohl gesinnt. Erst im Laufe seines letzten Aufenthalts im Jahr 1936 ändert sich das. Er erzählt, etwas breit, von einer Zugfahrt mit drei Deutschen und einem polnischen Amerikaner, die einen unangenehm überraschenden Aufenthalt an der deutschen Grenze hat. Weitere prominente Autoren sind: George Simenon, Annemarie Schwarzenbach, Virginia Woolf, Jean-Paul Satre – um nur ein paar zu nennen.
Einer der gespenstischsten Texte stammt von Jean Genet. Er schreibt nur ganz kurz über einen Aufenthalt von mehreren Monaten: „Ich war zu Fuß von Breslau nach Berlin gekommen. Ich hätte gern gestohlen. Ein merkwürdiger Bann hielt mich ab. […] ‚Dies ist ein Volk von Dieben‘, fühlte ich. Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes, wodurch ich mich auszeichnen könnte: Ich gehorche nur der allgemeinen Ordnung. Ich zerstöre sie nicht. Ich störe nicht. Der Skandal ist unmöglich. Ich stehle ins Leere.“ Genet kehrte bald nach Frankreich zurück, wo „die Gesetze der geläufigen Moral“ galten.
Auf verblüffende Weise unterhaltsam und interessant zu lesen sind Martha Dodds Aufzeichnungen. Sie war Tochter eines amerikanischen Botschafters und kam mit 24 Jahren im Sommer 1933 nach Berlin, wo sie bis 1939 blieb. Über diese Zeit schrieb sie ein Buch „My Years in Germany“ und gab nach dem Tod des Vaters auch dessen Tagebuchaufzeichnungen heraus.
Hitlers außenpolitischer Berater Hanfstaengl wollte sie sogar dem Führer als Geliebte zuführen: „Hitler braucht eine Frau! Am besten eine Amerikanerin! […] Martha, Sie sind genau die Richtige.“ Und Mrs. Dodd gibt zu, einen Augenblick lang fasziniert gewesen zu sein. Seine Augen fand sie überraschend und unvergesslich. „Er schien unaufdringlich, aufgeschlossen und natürlich, und seine Stimme und sein Blick hatten einen stillen Charme, beinahe etwas Sanftes.“
Interessant auch die Schweizer Beiträge: Ein Kaufmann schreibt unter dem Pseudonym René Juvet den unbeholfenen und betroffenen Tatsachenbericht „Ich war dabei. Zwanzig Jahre Nationalsozialismus 1923–1943“, und Max Frisch verblüfft mit einer eher freundlichen Analyse des deutschen Schwärmergeistes aus dem Jahre 1935: „Von jeher schwankt das deutsche Wesen, sowohl im Einzelmenschen wie im Volksganzen, zwischen Minderwertigkeitsangst und übersteigertem Selbstbewußtsein […] und es ist ja das Grundproblem jedes deutschen Menschen, daß er sich nicht verliere in der Hingabe ans Fremde und andererseits nicht in ängstlicher Selbstverpanzerung erstarre, daß er zwischen Empfänglichkeit und Selbstpreisgabe, zwischen Selbstbesinnung und Ichgeiz jenes schöpferische Gleichgewicht fände, das allein einen Goethe möglich machte.“
Radlmairs Lernprozess-Anthologie bleibt mein Favorit, weil er durch die Konzentration auf das eine Ereignis einen geschlosseneren, gesammelteren Eindruck gibt – hier taumelt man zwischen fast zu vielen Eindrücken von sehr unterschiedlichen literarischen Qualitäten. Aber diese Vielfältigkeit macht es auch reizvoll. Und vielleicht gefällt mir Radlmair auch nur deshalb, weil da ja quasi der Schrecken ein Ende gefunden hatte – hier ist man noch mittendrin. So sollte man vielleicht beide Bücher besitzen.
„Reisen ins Reich 1933 bis 1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland. Zusammengestellt und mit einer Einleitung von Oliver Lubrich. Eichborn (Die andere Bibliothek), Frankfurt/Main 2004, 430 Seiten, 30 EuroDie Erfolgsausgabe (2. Auflage) gibt es schon für 24,90 Euro