: Mitscherlichs „Unwirtlichkeit der Städte“ läßt grüßen
■ betr.: „Keine Pickelhaube für den Reichstag“, taz vom 29.4.94
[...] Die Kuppelwölbung war und ist immer noch eine ingenieurtechnische Leistung, die seit weit über 2.000 Jahren vom Orient bis Okzident Verwendung fand und von der römischen Baukunst über die Renaissance, den Barock und natürlich auch über den eklektischen Historismus in die Baukunst des 19. Jahrhunderts und der sogenannten Gründerzeit Eingang gefunden hat. Daß aufgrund der zentralen Raumvorgaben die Kuppe auch in der Herrschafts- und Kirchenarchitektur bestimmend wurde, ist naheliegend, sie deshalb aber per se ideologisch verteufeln zu wollen, ist unsinnig und empfindungslos, wie das nach dem letzten Krieg, auch durch die Akademie der Künste, propagierte Entdekorierungsprogramm u.a. in Berlin. Infolgedessen wurde an Zigtausenden Hausfassaden zugunsten einer vermeintlich sachlichen Wunschmoderne willkürlich der Stuck abgeschlagen. Die jüngste deutsche Geschichte wurde so jedenfalls nicht bewältigt – eher verdrängt und geleugnet, und alles gleichmachender grauer Rauhputz sollte von nun an das Gesicht Berlins prägen. Mitscherlichs „Unwirtlichkeit der Städte“ läßt hier bereits grüßen.
Kuppeln aber sind mehr als nur preußische Pickelhauben, sie sind urban betrachtet Versinnbildlichung und Kulminationspunkt gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und städtischen Lebens an hierfür bestimmten Orten. Selbst aus der Ferne, im Überblick, in der Stadtsilhouette zeichnen sie sich für das Auge wohltuend und belebend ab, sind Orientierungs- und Identifikationshilfe. Darauf zu verzichten bedeutet Sinnentleerung und Egalisierung städtischer Organismen. Zigarrenkistenartige Hochhaustürme aus den siebziger Jahren, die die Berliner Stadtlandschaft so unsinnlich und langweilig bestimmen, können doch nicht der Weisheit letzter Schluß sein. Der Reiz liegt in der Pluralität historischer und moderner Türme und Kuppeln. Werner Brunner
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