■ Mit der terroristischen Legende Carlos ist das Zeitalter der Übersichtlichkeit endgültig vorbeigegangen: Jetzt kommen die unsichtbaren Mafiosi und Plutoniumdealer
Es ist, wie wenn man ein altes Foto wiederfindet, ein Spotlight aus einer anderen Zeit: Carlos verhaftet! Wer war denn das, fragen Zwanzigjährige da bereits etwas gelangweilt. Tatsächlich war die Legende des Terrorismus ja vor allem eine Waffe im Kalten Krieg, eingesetzt unter den spezifischen Bedingungen der Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Wie vor ihm bereits die Panzer und Mittelstreckenraketen wird er jetzt abgerüstet – angeblich noch einmal mit hohem Gewinn für seine früheren Auftraggeber.
Nach Informationen aus Paris war die französische Regierung bereit, für die Auslieferung des „Kriminellen im Ruhestand“ (so ein israelischer Geheimdienstler) immer noch einen hohen Preis zu zahlen. Denn immerhin bekommt nun der französische Geheimdienst – zuletzt international in Erscheinung getreten durch die Versenkung eines Greenpeace-Schiffes vor Neuseeland – endlich mal wieder eine positive Presse.
Doch trotz alledem, Ilich Ramirez Sánchez war bereits lange vor seiner Verhaftung Geschichte. Der bevorstehende Prozeß könnte zwar für Nahostspezialisten noch manche interessante Neuigkeit zutage fördern, für die politischen Entwicklungen in der Region spielt seine Auslieferung an Frankreich keine Rolle mehr.
Terrorismus heute ist mit den Anschlägen der siebziger Jahre nicht mehr zu vergleichen. Was ist ein Carlos gegen mehrere Kilogramm frei vagabundierenden Plutoniums, das mit völlig unabsehbaren Konsequenzen in alle möglichen Hände gelangen könnte?
Auch wenn Carlos von diversen Geheimdiensten und ihren publizistischen Sprachrohren zwischenzeitlich zu einem unfaßbaren Mythos erklärt wurde – zuallererst, um die eigene Erfolglosigkeit zu bemänteln –, der Mann hat ein Gesicht, und seine Motive und Interessenlagen waren im großen und ganzen klar. Auch bewegte er sich innerhalb klarer Fronten, die sich mittlerweile längst aufgelöst haben. Doch damit ist der Terror nicht aus der Welt. Andere, nun wirklich gesichtslose Interessengruppen werden sich weiter des Instruments des „individuellen Terrors“ bedienen – ohne dem noch eine ideologische Rechtfertigung zu geben.
Auf dem Sektor des Terrorismus hat eben auch der Kapitalismus gesiegt. Eine Drogenmafia, die ganze Landstriche terrorisiert, hat nur ein Ziel: Gewinnmaximierung. Für die mögliche Drohung mit dem Einsatz des Plutoniums, das nun verschoben wird, ist die kommerzielle Erpressung die wahrscheinlichste Variante – die Zahl der potentiellen Täter geht dann gegen unendlich. Das erfordert ein neues Denken vor allem in der Bekämpfung des Terrorismus.
Früher ging es darum, politische Lösungen zu suchen, statt nach mehr Polizei zu rufen. Es wird zukünftig darum gehen, Antworten zu finden, die der völlig veränderten Motivlage der Täter entsprechen. Die Auseinandersetzung mit der Rauschgiftmafia hat einen Vorgeschmack davon geliefert. Jürgen Gottschlich
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