: Mit der Kamera philosophiert
Erlebnis und Lektion in Verführung zugleich: Im Luxemburgischen Clerf wird die restaurierte Fassung der von Edward Steichen zusammengestellten Fotosammlung „The Family of Man“ als Dauerausstellung gezeigt ■ Von Dietmar Schellin
Die Fotoausstellung „The Family of Man“ ist gigantisch, aber überschaubar. Ausgewählt und räumlich strukturiert wurde nach den großen Menschheitsthemen: Essen, Arbeit, Lachen, Trinken, Liebe, Spiel, Erziehung, Tod. „Den Menschen den Menschen erklären“ mittels Fotoausstellung ist ihr Anspruch, nicht weniger als mit der Kamera philosophieren.
1955 von dem berühmten Fotografen Edward John Steichen zusammengestellt, tourte die Schau in verschiedenen Fassungen rund um den Globus, bis neun Millionen Menschen die 503 Fotos gesehen hatten. Dann waren die auf Holz gespannten Aufnahmen ramponiert, und Edward J. Steichen, seinerzeit Leiter der Fotoabteilung des New Yorker Museum of Modern Art, gelang es in einem zweiten Anlauf, laut Selbsteinschätzung sein „größtes und wichtigstes Werk“ dem Staate Luxemburg zu schenken. Die Bilder wurden aufwendig restauriert und Anfang Juni diesen Jahres in einem Staatsakt der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht.
Steichen, 1879 in Luxemburg geboren, war zunächst ein Maler des Symbolismus. Balzac, Rodin, Huysmans waren seine Leitfiguren. 1923 verbrannte er allerdings alle Gemälde, reichte die Scheidung ein und wurde höchstbezahlter Star- und Modefotograf bei Condé Nast, für Vogue und Vanity Fair.
Erst Maler, gleichzeitig Werbegrafiker für Bier- und Fleischkonserven, und schließlich Fotograf, saß Steichen während des Ersten Weltkriegs in vibrierenden Doppeldeckern hoch überm Grabenkrieg. Seine Aufgabe: die Luftaufklärung. Diese Erfahrung, so Steichen in der Autobiografie, schärfte seinen Blick und lehrte ihn erst, die Schönheit nicht manipulierter Fotografie zu erfassen. Ohne seine Aufnahmen allerdings hätten die weitreichenden dreißig und vierzig Zentimeter Geschosse – und vor allem das Giftgas – nicht effektiv eingesetzt werden können. Die Fotografie war insofern Teil und nicht Dokument des Stellungskriegs: Teil der Kriegstechnologie.
Den Titel „The Family of Man“ hatte Steichen aus den Schriften des tugendhaften Präsidenten Lincoln. In einem Schreiben an alle Kollegen, Archive, Zeitschriften, Galerien der Welt rief er zur Einsendung von fotografischem Bildmaterial auf; vier Millionen Aufnahmen kamen zurück, allein 273 Fotografen aus 68 Ländern gehörten zur Endauswahl. Darunter eine handvoll echte Steichen.
Eine Art fotografischer Platonismus
Clerf, auch Clervaux, besitzt ein schönes Schloß und ein Benediktinerkloster, der Tourismus ernährt die tausend Seelen gut. Dort in Clervaux wollte Steichen zuletzt sein Hauptwerk dauerausgestellt wissen, dort lagen die Fotos dann jahrzehntelang unterm Dach. Bis Jean Back die Leitung des Centre National de l'Audio-Visuel und sofort auch die Rettung des großen Geschenks in die Hände nahm: „Der Zustand der Bilder war, gelinde gesagt, schlimm. Abgestoßene Ecken, abgerissenes Fotopapier, Löcher in den Bildern.“ Man beriet sich in Paris mit der Expertin für älteres Fotomaterial, mit Anne Cartier-Bresson. Dann wurde Staub abgepinselt, Ränder wurden restauriert, Löcher behutsam rekonstruiert.
In Clerf beginnt für die gewaltige Fotoausstellung nun „ein zweites Leben“. Wobei auch Steichens künstlerische Entwicklung ins Auge fällt: Der frühe, noch malende Symbolist hatte die unwiderstehliche Neigung, Linien und Konturen zu verwischen, bedeutungsvoll fließende Übergänge zu schaffen zwischen den Gegenständen, zwischen Objekt und Hintergrund. Sein Rodin schaut aus wie der leibhaftige Zeus. Die „Family of Man“ ist auch ein Großversuch, Unterschiede zu verwischen, zu überblenden.
Steichen traute seinem Medium nicht wirklich. Er wollte nicht zeigen, daß der Fotografie etwas Vermittelndes anhaften kann. Statt dessen zeigt er, was als große Erzählung durch die Zusammenstellung erst entsteht. Eine überzeitliche wirkende Schau des freudigen, des essenden und liebenden Menschen, hinter dessen Antlitz sich das Wesentliche offenbaren soll. Darin liegt eine Art fotografischer Platonismus begründet – das einzelne Erscheinende mag zwar schön sein, das Wesentliche schwebt als zu Erkennendes aber über allem einzelnen. Einst war es nur der Philosoph, der dieses Wesentliche zum Erscheinen bringen konnte. Im technischen Zeitalter hat der Fotograf seine Aufgabe übernommen.
Steichen zitiert als Schriftzug zwischen den Fotos Thomas Paine, der Platon zitiert, ewiges Recycling dieser einen „Idee“: „But such is the irresistable nature of truth, that all it asks, and all it wants, is the liberty of appearing.“ Es ist einmal mehr die Wahrheit, die erscheinen soll. Sie will sich schon immer zeigen, doch sie braucht Sehende: eben den Fotografen. Damit genug Licht auf diese Einstellung fällt, zitiert Steichen zwischen den Bildern Homer und Einstein, die Bhagvad Gita und den russischen Volksmund: „Eat bread and salt and speak the Truth“ – oder Montaigne: „Every man the whole stamp of human condition.“
Die ganze Welt in einem heilen Bild
Die Fotos dienen als Beispiele und Belege dieser steichenschen Philosophie der unwandelbaren Conditio Humana, etwa bei einer Aufnahme von Arbeitern während eines Tunnelbaus, dessen fotografisches Abbild fünfzehn Quadratmeter Ausstellungsfläche einnimmt. Der Fotograf steht im Tunnel und richtet die Kamera gleichnishaft aus der Höhle nach draußen. In die Öffnung des Tunnels ragt ein Gerüst aus etlichen Etagen, leicht und sicher zugleich. Darauf grazile Silhouetten von Arbeitern, ihre Armhaltungen und Schritte: reine Geometrie. Draußen drei Lastwagen wie Riesenameisen.
Das Foto bildet die Schönheit der Form ab, ohne auf den sozialen Kontext ihrer Entstehung im Umfeld der Arbeiter einzugehen. Deshalb schon das harte Urteil Roland Barthes' in „Mythen des Alltags“, die Ausstellung zeige das Scheitern der Fotografie, „l'echec de la photographie me parait ici flagrant“. Sie enthistorisiere, sie entziehe den Phänomenen ihre konkrete Geschichtlichkeit.
Dabei hätte sich Steichen gerade aufgrund der eigenen Biografie mit den möglichen Wirkungsweisen von Fotografie auskennen müssen. Bis 1945 war er immerhin Captain bei der US-Marine, um für die USA den Pazifikkrieg heroisch darzustellen: Schlachtschiffe und Flugzeugträger, die er wiederum wie Titanen abbildete. Und einmal mehr Luftaufklärung, hier war Steichen in leitender Funktion und auch erfinderisch tätig. „Roads to Victory“ hieß eine Ausstellung, „Power in the Pacific“ eine andere, in der Schiffe als technische Wunderdinger paradieren. Die „Family of Man“ zeigt Menschen nicht anders.
Steichens Zusammenstellung der Fotografien ist dennoch teilweise wunderschön, „klassisch schön“. Und ein wenig verborgen transportiert sie ihre Botschaft, manchmal wie religiöse Ikonografie: Etwa in einer Reihe afrikanischer Frauen, die auf den Köpfen Körbe, Gefäße balancieren. Wiederum nur Silhouetten, keine Gesichter. Gegen den bewegten Himmel fotografiert, fast ohne Landschaft. Einem Pilgerbild nicht unähnlich.
Die „Family of Man“ vermittelt mit Geschick und Grazie – wie die einfachen Frauen in ihrer edlen und doch alltäglichen Anmut – auch das Selbstverständnis der Vereinigten Staaten zu Zeiten des Kalten Krieges, in Werte wie Familie, Glück und Arbeit verpackt. Es sind immer noch die Bilder der „Power in Pacific“, nur nicht im Krieg, sondern während des Friedens. Steichens „The Family of Man“ war die positiv gewendete Seite des Kalten Krieges.
Dieser Zusammenhang wird nicht gezeigt in Clervaux, aber man merkt ihn am Fehlen, am Auslassen von Themen, die für den Lebenslauf Steichens doch wesentlich erscheinen. Zwei Weltkriege, die er – an der Kamera als Waffe – mitgemacht hat, existieren in seinem Bilderrückblick nicht. Die rasante Technifizierung, Industrialisierung aller Lebensbereiche, Kolonialismus, alles kein Thema. Weggeblendet. Hunger als Pittoreske. Arbeit immer nur heroisch. Die Frau als Naturheiligenbild, oft in der Nähe ihres Elementes Wasser.
The „Family of Man“ ist der amerikanisch erträumte, in die Welt geschickte und schließlich nach Europa zurückgekehrte Traum von einer ganzen Welt in einem heilen Bild. Auch mit Abstand betrachtet ein Erlebnis und eine Lektion in Verführung zugleich.
„The Family of Man“, im ChÛteau de Clervaux, täglich, außer montags, von 10 bis 18 Uhr.
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