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Archiv-Artikel

„Mit den Toten spielt man nicht“

Die Madrileños kritzeln Kommentare auf Filmplakate, sie bemalen Stirnbänder, sprayen Graffiti, dekorieren Kerzenopfer – und allgegenwärtig ist der „crespón negro“, die spanische Trauerschleife. Über die Zeichen, die der Schock über Terroranschläge in einer europäischen Metropole schreibt

VON CHRISTOPH TWICKEL

Es darf nur ein Zeichen geben.

Zwei Stunden vor der Demonstration am Tag nach den Attentaten entfernen Plakatierer noch schnell die bunten Werbebotschaften in den Litfaßsäulen an der Plaza Colón und ersetzen sie durch Plakate mit dem Zeichen der Trauer: einer schwarzen Schleife auf weißem Grund. Sieht aus wie das Aids-Solidaritäts-Gebinde, nur eben in Schwarz. Schon lange ist der crespón negro, so heißt dieses Zeichen, partei- und richtungsübergreifend das Symbol der spanischen Zivilgesellschaft, wenn es darum ging, gegen die Anschläge der ETA auf die Straße zu gehen. Angesichts der Anschläge vom 11. März wird der Trauerflor zum Trostspender, zum allgegenwärtigen Allheilmittel.

An den Bürogebäuden rund um die Plaza Colón sind riesige schwarze Stoffbahnen aufgespannt, geformt zu Schleifen. An den Jacken und Mänteln der Menschen, die zu tausenden aus den Seitenstraßen auf den Platz strömen, auf den rot-gelb-roten Fahnen und weißen Bettlaken, die aus den Fenstern hängen: überall schwarze Schleifen. In den Fenstern der Bars, der Banken und Geschäfte rund um den Platz, auf den Plakaten, Spruchbändern und Zetteln, die Demonstranten hochhalten. Geformt aus Stoff, Geschenkband, Pappe, Filz oder Wolle, gemalt, gesprüht, auf DIN A-4-Papier ausgedruckt und in Klarsichtfolie gesteckt, damit sie nicht vom Regen nass werden.

Fast beängstigend ist es, als hätte ein Orwell'sches Wahrheitsministerium all das angeordnet. Die Designerläden und Maßschneider von Castellana und Recoletos, der schicken, an den Plaza Colón angrenzenden Viertel, haben ihre Schaufensterpuppen auch mit Schleifen versehen. Der 1.000-Euro-Smoking trägt Trauerflor. Das ist nicht Orwell, das ist die Hauptstadt Spaniens, Europa, Erste Welt.

Die Straßen und Plätze sind an den Tagen nach den Anschlägen schwarz von Menschen. Der Himmel weint mit Madrid, die Schlacht der drei Millionen Regenschirme, endlose Kolonnen von bedrückten Madrileños schieben sich durch die Prachtpromenaden der Hauptstadt.

Die Teenager sind die Lebhaftesten; tropfnass und mit verschmierten Kajal-Trauerschleifen in den Gesichtern drücken sie sich voran, die spanische Flagge um die Schultern. Enthusiastisch auf und ab hüpfend skandieren sie die bekannten Parolen: „ETA No!“, „Hure Batasuna!“ und die Hände nach vorne streckend: „Das sind unsere Waffen!“ Es sind die altbekannten Sprechchöre von den großen Anti-ETA-Demonstrationen der letzten Jahre. „Wut und Schmerz“ mischen sich mit der Bequemlichkeit, so abgesichert dem altbekannten Feind gegenüberstehen zu können. Denn hatte nicht Innenminister Ácebes schon ein paar Stunden nach den Anschlägen der Presse offiziell verkündet, alles weise auf die „banda terrorista“ hin, die militanten baskischen Separatisten?

Doch sie greifen nicht wirklich um sich, die Anti-ETA-Sprechchöre. Zu hypothetisch ist der Verdacht, zu monströs das Attentat. Viele ziehen das Schweigen vor. Oder steigen bei den Parolen ein, die alle einen: „In diesem Zug saßen wir alle!“, heißt die eine, „Wir wollen Frieden!“, die andere.

Frieden. Tausendfach ziert das Wort „Paz!“ die Schilder, die Stirnbänder, die Banderolen. „No a la guerra!“ Auch das ist ein bekanntes Ritual, trainiert auf den riesigen Friedensdemos vor knapp einem Jahr, als es gegen den Irakkrieg und die spanische Beteiligung ging. Noch unter Schock greifen die Bürger auf eingeübte Gesten zurück: gegen den Krieg, gegen die ETA. Sie scheinen beschwören zu wollen, dass auch nach dem blutigsten Attentat seit dem Zweiten Weltkrieg die Frontlinien für Spanien so klar umrissen bleiben mögen, wie sie es gewohnt sind: dass sich das Land keine Feinde im Ausland machen soll. Dass es im Inneren nur gegen eine immer kleiner werdende Minderheit von Separatisten geht.

„Wer war es?“, lautet die auf einen Zettel gekritzelte Frage inmitten hunderter von Friedhofskerzen, Blumengebinden und Plakaten, die sich in der Wandelhalle des Bahnhofs Atocha zwischen zwei Säulen zwängen. „Was verbergt ihr vor uns?“ Eine Reinemachefrau im schreiend gelben Overall kratzt mit einem Schieber das Wachs zwischen den Kerzen weg. An mehreren Stellen des Bahnhofs, in dem am Donnerstag die meisten Menschen starben, ergießen sich Andenken an die Toten über den Kachelboden und klettern mit Plakaten und Graffiti an Wänden, Säulen und Scheiben hoch.

Auch das ist gelernt, man kennt es. Aus den Tagen nach dem 11. September 2001. Wie in New York. Auch in Madrid dekorieren Nationalflaggen die Altäre aus Blumen- und Kerzenopfern. Doch wenige der handgeschriebenen Zettel ergehen sich in Hurrapatriotismus oder „Rübe ab“-Rethorik. „Ihr habt euer Grab gegraben“, hat jemand auf ein T-Shirt gemalt, die „Todesstrafe“ fordert ein anderer. Eine Ecuadorianerin hat einen Brief geschrieben: „Wir Südamerikaner sind auch voller Schmerz.“ „Migranten gegen den Terrorismus“, heißt es auf einer Banderole.

Gut die Hälfte der Opfer sind Nichtspanier, aus elf Nationen kommen die Opfer, die meisten aus Ecuador, Peru, Kolumbien und anderen Armutsregionen Lateinamerikas. Die Regierung hat den illegal in Spanien lebenden Familien der Toten und Verletzten die Regularisierung in Aussicht gestellt. Der Bruder eines peruanischen Anschlagopfers musste sich allerdings bereits von den spanischen Behörden belehren lassen: Mit familia sind im spanischen Kastillisch nur die Eltern und Kinder gemeint.

Ansonsten sind die Graffitti Trostspender, Hassbotschaften gegen die asesinos, die Mörder, Durchhalteparolen. Und immer wieder taucht zwischen den Friedenszeichen und schwarzen Schleifen die eine Frage auf: „Aznar, sag uns die Wahrheit: Wer war es?“

Ausgerechnet in diesen Tagen wird in den U-Bahn-Eingängen der Stadt großflächig für Quentin Tarantinos Film „Kill Bill“ geworben. „Die blutige Geschichte einer Rache“ steht auf den riesigen gelben Plakaten. Die Madrileños verstehen es als Kommentar zu „11-M“ und kritzeln Antworten neben den Kopf von Uma Thurman. „Man verhandelt mit Argumenten, nicht mit Gewalt“ oder „Auf jede Aggression gibt es eine Antwort“.

Die blutige Geschichte einer Rache. Diese Lesart der Anschläge lag in der Luft, seit bekannt wurde, dass sich in dem Kastenwagen, mit dem die Sprengsätze transportiert wurden, eine Kassette mit Koranversen fand. Offiziell hatten die Parteien ihren Wahlkampf nach den Anschlägen ausgesetzt, doch der Verdacht, dass die Regierung mit den Anschlägen wahltaktisch umgeht, lag nahe. Dahinter liegt eine einfache Rechnung: Wenn die Leute glauben, dass es die ETA war, nützt es Aznar und der regierenden PP, die immer eine No-Tolerance-Linie gegen die Separatisten gefahren hat. Weisen die Spuren in Richtung al-Qaida, nützt es den Sozialisten von der PSOE, weil die von der Aznar-Regierung forcierte Beteiligung am Irakkrieg das Land erst in das Visier des islamistischen Terrorismus gebracht hat. „Aznar, verrückter Mörder, ist das der Preis deines Krieges?“, fragt ein Graffitto in der U-Bahn.

Am Aufgang der Metrostation Lavapiés stützt sich ein hutzeliges Männchen mit seiner Krücke ab, um mit Kreide etwas auf die Stufen zu malen. „P-2“ schreibt er, dann ein Gleichheitszeichen und ein „M“, doch bevor er „M-11“ zu Ende führen kann, geht ihm die Kreide aus. Mit irren Augen blickt er um sich, rafft seine Sachen und humpelt eilig davon. Geheimlogen, Rosenkreuzer, Freimaurer sind ihm auf den Fersen. M-11, der jüngste Hitpoint für Konspirationstheorien, es kann wieder losgehen.

Aznar und Ácebes haben hoch und heilig versprochen, die Öffentlichkeit unmittelbar über neue Ermittlungsergebnisse zu unterrichten. Gegen 18 Uhr versammeln sich vor der Parteizentrale der PP in der Calle Génova mehrere tausend Menschen. Sie halten „Paz“-Schilder in die Luft und skandieren aufgebracht „Mit den Toten spielt man nicht!“, „Vor der Wahl wollen wir die Wahrheit!“, „Unsere Toten, euer Krieg!“ und immer wieder „Wer war es?“.

Um 20.15 Uhr ruft Innenminister Ácebes zur Pressekonferenz und gibt die Festnahme der drei Marokkaner und zwei Inder bekannt. Kleinlaut und fahrig wie ein Schuljunge weist er immer wieder darauf hin, dass er jetzt genau das macht, was er versprochen hatte: die Öffentlichkeit zeitnah über Fortschritte in den Ermittlungen zu unterrichten. Mariano Ajoy, der Spitzenkandidat der PP und klarer Wahlfavorit, tritt dann vor die Presse, um die spontane Demonstration als „illegal“, als einen „antidemokratischen Akt“ zu geißeln, der „Druck auf die Wahlen“ ausübe. Man wird nervös bei der Partido Popular. Sollte nach dem Urnengang tatsächlich ruchbar werden, dass die Regierung Informationen zurückgehalten hat, wären die Wogen der Empörung nicht zu glätten.

Gegen 1 Uhr nachts stellt sich der Innenminister nochmals den Kameras, bleich und unrasiert informiert er über den Fund des Bekennervideos. Am Rathaus von Madrid auf der Puerta del Sol haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits über 10.000 Menschen versammelt. Sie schlagen auf Kochtöpfe, halten Schilder in die Luft, auf denen Aznar Mickymaus-Ohren trägt, und rufen: „Irak, Atocha, derselbe Krieg!“