: Mit den Gedanken spazierengehen
■ Der eine schwebt, die andere versinkt – die ersten Eindrücke beim autogenen Training sind oft widersprüchlich
Jetzt fehlt nur noch die Friedenspfeife. Im Kreis sitzen die zwölf Leute auf Gymnastikmatten. Sie haben sich Decken über die Schultern gehängt. Es ist klamm im Saal 5 der Volkshochschule Kreuzberg. Und ein wenig hat es ja von Frieden schaffendem Palaver. Die Anwesenden wollen Frieden mit dem Psycho-Krieg des Alltags: dem Streß. Deswegen lernen sie autogenes Training. Eine Kunst, sich ohne äußerliche Mittel wieder konzentrieren zu können.
Als erstes schnarchte der Herr an der Heizung. Eine nicht ganz unnormale Reaktion. Der unter Hochdruck stehende Kreislauf sackt herab, als die Leiterin des Kurses ihre Schützlinge dieses Wochenendes mit ruhiger Stimme zu einer ersten konzentrierenden Runde bittet. Entspannt sollen die zwölf Männer und Frauen liegen. Der Länge nach. Die Beine gemütlich ausgestreckt. Die Arme knapp neben dem Körper. So ruhen sie an die zwanzig Minuten, einer neben der anderen. Ihre Augen sind geschlossen, doch ihre Aufmerksamkeit soll bleiben. Was sie nicht immer tut: Der eine schläft wohlig ein. Andere „gehen mit ihren Gedanken spazieren“, wie sie hinterher berichten. Manch einer versinkt in einen Zustand irgendwo zwischen wach und schlummernd. Ein dünner Schlaf, ganz knapp unter der Oberfläche des Bewußtseins. Er endet sofort, wenn die Psychologin ihre Schlußformel spricht. Obwohl sie die Stimme kaum anhebt: „Arme ganz fest, tief atmen, Augen auf.“
Was die TeilnehmerInnen sich vom autogenen Training erwarten? Das ist noch lange kein Thema. Sie wollen es kennenlernen, lautet die erste Begründung, die sie im Kreise geben. Mehr nicht. Man kennt sich nicht. Und das ist gut so. Die Anonymität der big town, unter der so viele leiden, sie muß auch hier gewahrt bleiben. Nach den Sitzungen sprechen sie über ihre Wahrnehmungen. Der sportliche junge Mann fühlte sich, als schwebe er über der Matte. Seine Arme seien ganz warm gewesen, erzählt er ein wenig versonnen. Hellwach habe er sich gefühlt und von einem „Glücksgefühl durchströmt“, als er merkte, welche Reaktionen sein Körper zeigte.
Ganz anders die Frau neben ihm. Sie sei in der Matte versunken, erzählt sie. Ellenbogen und Fersen hätten heiß angemutet. Wie in den Boden gebohrt. Die anderen hören es an. Schwankend zwischen der Eifersucht auf das noch nicht durchlebte Gefühl und der Hoffnung, es werde sich alsbald einstellen. Aber der Austausch ist wichtig. Viele würden enttäuscht aufhören, weil sich die erwartete Trance nicht einstellt. So aber ahnen sie, was noch kommen wird.
Die Profis können es in der U- Bahn. Sie liegen nicht, sondern sitzen in der Droschkenkutscherhaltung. Die Wirbelsäule in stabiler „S“-Form. Die Arme auf die Oberschenkel gelegt. In wenigen Minuten schalten sie vollkommen ab. Das Außen tritt zurück. Mensch horcht in sich hinein: fühlt seine Schwere, nimmt seine Körperwärme wahr und lauscht dem eigenen Atem. Alles, was im Alltag verlorengeht: wenn Lärm, fremde Hitze, schlechte Luft die Selbstwahrnehmung überdecken. Vier Minuten, sagt die Psychologin und Kursleiterin, wirkten sich aus wie ein tiefer kurzer Schlaf: Er bringt die Konzentrationsfähigkeit zurück. Aber man müsse lange üben, meint die Psychologin. Mehrmals täglich. Anfangs darf niemand und nichts stören. Das Tschilpen der Vögel, man nimmt es plötzlich wahr, wenige Schritte von der lärmenden Friedrichstraße entfernt.
Plötzlich klatscht die Kursleiterin in die Hände. Obwohl doch alle wach sind. Müde, mit verschlafenen Gesichtern hocken sie im Kreis. Selbst die quirlige Frau, die allzugern von ihren Erfahrungen berichtet, schweigt still. Autogenes Training kann wie eine Droge wirken: Nach der Séance kehren die vermeintlich Konzentrierten nur halb in die Realität zurück. Christian Füller
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