■ Mit dem Selbst auf du und du: Deutsche Ichstärke
Berlin (taz) – Auto ist griechisch, heißt selbst, automobil also selbstbeweglich. Aber schon lange bevor das Objekt dank massenhaften Auftretens und gegenseitiger Behinderung immer häufiger zu einem Immobil geworden ist, tilgte der Volksmund den zweiten Wortteil. „Ich steh' da hinten“, sagt der spazierengehende Autobesitzer und deutet in die Ferne.
Fast 39 Millionen Selbstbeweger besitzen die BewohnerInnen Deutschlands. Im Westen verfügen zwei Drittel der fahrfähigen Bevölkerung über ein Ich, auf einen Haushalt kommen inzwischen statistisch gesehen 1,1 Selbsts. Damit haben die Alt-Bundesrepublikaner die Prognostiker aus den 70er Jahren Lügen gestraft: Die sahen den Bedarf schon bei weitaus niedrigeren Zahlen als gesättigt an.
Die Ostdeutschen begannen 1990 eine erbitterte Aufholjagd, die zwar auch dort auf den Straßen zu einer wachsenden Bewegungsarmut führt, dafür aber die Gruppe der Selbstlosen massiv verkleinerte. Noch aber liegt die Zahl der Menschen ohne in der Garage oder am Straßenrand geparktes Ich um ein Fünftel niedriger als in den alten Bundesländern.
Es gibt inzwischen so gut wie keinen Bauernhaushalt mehr, der kein Selbst sein eigen nennt, und auch fast sämtliche Beamten sehen es offenbar als ihre Pflicht und Schuldigkeit an, beim Staat außer ihrem Selbst mit Beinen auch noch eins mit Rädern anzumelden. Auch die Versorgung der Arbeiterschaft mit einem oder mehreren Selbsts hat inzwischen die 90-Prozent-Marke überschritten. In jedem sechsten Haushalt hierzulande gibt es inzwischen zwei, drei, viele Selbsts. Nur Rentner, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose sind zu 50 Prozent unselbständig.
Damit hat Deutschland auch bei der Selbst-Potenz eine Weltspitzenposition erreicht und Länder wie Kanada, Australien und Neuseeland abgehängt, die früher über weitaus höhere Selbst-Quoten verfügten. Nur in den USA liegt die Ausstattung noch immer höher. Die Japaner hingegen haben eine vergleichsweise Ich-Schwäche: Nur etwa jeder vierte Einwohner besitzt ein Selbst, in Afrika ist es gar nur jeder 72ste.
Aber der Siegeszug der Selbstverkäufer wird weiter anhalten, sagt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) voraus: Nichts als leeres Wortgeklingel deutet darauf hin, daß in Bonn in den nächsten Jahren Maßnahmen gegen den Selbstboom ergriffen werden. So wird es im Jahr 2010 noch einmal 28 Prozent mehr Ichs als heute auf den deutschen Straßen geben; die meisten davon werden Zweit- und Drittselbsts sein. Annette Jensen
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