Mit Wunderkindern auf Du und Du: Klug macht einsam
■ Niedersachsen: 20.000 kleine Cleverles turnen lieber im Gehirn als am Gerüst
Spätestens wenn ein dreijähriges Kind die verdutzten Eltern nach dem Sinn des Lebens oder der Endlichkeit des Universums fragt, drängt sich die Vermutung auf: Der Sproß ist hochbegabt. Die Freude darüber kann unter Umständen nur von kurzer Dauer sein. „Kinder mit besonderen intellektuell kreativen Fähigkeiten passen nun mal nicht in das gängige Bild von Heranwachsenden“, weiß die Ärztin für Psychotherapie, Barbara Schlichte-Hiersemenzel. Wenn die Kleinen in die Schule kommen, beginne die Begabung oft für soziale Probleme zu sorgen.
„Die Kinder leiden unter der Last der Spaltung“, sagt die Psychotherapeutin am Rand der bis Freitag dauernden Bildungsmesse Interschul '95. Sie stünden vor der Entscheidung, sich entweder ihrer Begabung hinzugeben und damit von den Gleichaltrigen abzusondern. Oder sie verstellten sich, um bei ihren AltersgenossInnen dazuzugehören. Anzeichen für eine besonders hohe Begabung des Kindes seien unter anderem ungezügelte Lebhaftigkeit, gutes Gedächtnis, starke Phantasie und ausgeprägter Sinn für Witz und Komik.
Da nach Angaben der Ärztin nur etwa zwei Prozent eines Jahrgangs hochbegabt sind, vereinsamen die Talentierten schnell. Oft gewännen sie auch den Eindruck, mit ihnen stimme etwas nicht. Die Folgen davon seien häufig Depressionen und Lernstörungen. Die Eltern sind verunsichert: „Ich möchte, daß mein Kind glücklich wird, auch wenn es besonders clever ist“, zitierte Schlichte-Hiersemenzel die Mutter eines hochbegabten Kindes.
Eine mögliche Lösung sei das Zusammenlegen der Hochbegabten innerhalb einer Klasse von anderen Schülern. Parallel zu Übungsaufgaben für normal Begabte könnten Lehrer der kleinen Gruppe schwierigere Aufgaben stellen. Einzelne Schulen für besonders Talentierte sind nach Ansicht der Ärztin jedoch keine gute Lösung. „Wie bei jedem Zusammenspiel von Mehr- und Minderheiten sollten auch die Kinder das Miteinander früh genug lernen.“
Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für das Hochbegabte Kind (DGHK) drücken allein in Niedersachsen rund 20 000 hochbegabte Jungen und Mädchen die Schulbank. „Im Vergleich zu musischen oder sportlichen Talenten wird die intellektuelle Begabung zu wenig gefördert“, sagt Schlichte-Hieresemenzel. „Wenn ein Kind lieber mit seinen grauen Zellen turnt, als mit dem Klettergerüst, soll man es doch lassen.“
Imke Oltmann, dpa
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