■ Mit Rußlands Reformern auf du und du: Im alten Teufelskreis
Berlin (taz) – Wer ist Viktor Geraschtschenko? Kaum jemand kennt den Mann, doch die Wirtschaftsexperten sind sich schnell einig: Der Chef der russischen Zentralbank ist der schlechteste Notenbankier der Welt. Das harsche Urteil, das Jeffrey D. Sachs, Havards Starökonom und bis vor kurzem wichtigster ausländischer Berater der russischen Regierung, über Geraschtschenko verhängte, ist nicht aus der Luft gegriffen. Der unermüdliche Kämpfer gegen die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), stets bemüht, die Stabilisierungsmaßnahmen der Paradereformer Jegor Gaidar und Boris Fjodorow mit seiner lockeren Geldpolitik zu konterkarieren, trägt einen Hauptteil der Schuld für das finanzielle Desaster des russischen Staates.
Das Ergebnis der großzügigen Subventions- und Kreditoperationen: Das Haushaltsdefizit wuchs im letzten Jahr mit rund 17 Billionen Rubel auf gut 10 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts – doppelt soviel wie ursprünglich kalkuliert. Auf Industrie und Landwirtschaft lasten Schulden von rund vier Billionen Rubel, die von Regierung und Zentralbank früher oder später übernommen werden müssen. Die riesige Schuldenkette lähmt nicht nur die Wirtschaft, sie treibt auch die Inflation und den Schuldenberg auf immer neue Rekordmarken: Die Teuerung belief sich 1993 auf gut 1.000 Prozent; die Auslandsverbindlichkeiten betragen inzwischen über 83 Milliarden US-Dollar. Und da sich selbst unter den „roten Direktoren“ längst herumgesprochen hat, wie weich der Rubel ist, werden die verfügbaren Devisen schnell auf ausländische Bankkonten geschafft – rund 30 Milliarden Dollar sollen dort inzwischen schlummern.
Als Finanzminister Fjodorow vor gut zwei Wochen den Rausschmiß der beiden größten Geldverschwender, Geraschtschenko und Landwirtschafts- Vizepremier Alexander Sawerjucha, verlangte, lehnte Tschernomyrdin dankend ab. Fjodorow nahm, wie vor im Gaidar, seinen Hut. Nun befürchten nicht nur die Reformer, sondern auch Ökonomen wie Grigori Jawlinski, daß die laxe Geldpolitik die Preise spätestens im Herbst explodieren läßt und damit eine neue Teuerungsspirale in Gang bringt. Der freie Fall des Rubels an der Moskauer Valutabörse spricht da Bände.
Gleich billionenweise schüttet Regierungschef Viktor Tschernomyrdin nach der Beendigung der „romantischen Etappe der Reformen“ die nicht vorhandenen Rubel aus, und Adjutant Geraschtschenko stopft die Löcher weiterhin brav mit der Notenpresse. Ein neues Parlamentsgebäude, das soviel wie 20 Prozent der russischen Sozialausgaben verschlingt; Unsummen für eine schlicht neoimperialistischen Machtkalkülen entsprungene Währungsunion mit Weißrußland, gleich 40 Billionen Rubel (rund 43 Mrd. DM) für die bankrotten Kolchosen – mit den schönsten „nichtmonetaristischen Methoden“ führen der Premier und sein Bankpräsident Rußland geradezu in das Paradies des geldlosen Zustands der Hyperinflation. Von „Schocktherapie“, wie sie mit einer restriktiven Geldpolitik in Polen angewandt wurde, hat die russische Regierung keine Ahnung.
Doch nicht alle Schuld an dem Debakel ist bei den zu zaghaften Reformen zu suchen. So hat der ebenfalls demissionierte Berater Jeffrey Sachs schwere Vorwürfe gegen den Westen erhoben: IWF und Industriestaaten hätten nur eine geringe Bereitschaft gezeigt, die Reformbewegung finanziell zu unterstützen – von den für 1993 versprochenen 28 Milliarden Dollar seien nur fünf Milliarden eingetroffen. Erwin Single
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