: Mit Koran gegen Landraub
Die Politologin Helga Baumgarten zeichnet die Geschichte der Hamas bis zur Regierungspartei nach, die Journalistin Amira Hass beschreibt den zermürbenden Alltag in den von Israel besetzten Gebieten
VON TSAFRIR COHEN
Die Hamas wird gerne als eine antisemitische Bewegung dargestellt, deren religiöses Ziel die Vernichtung Israels sei: Das wird nicht nur von selbst ernannten Nahost-Experten, sondern auch von einem großen Teil der westlichen Öffentlichkeit so gesehen. Das erste Buch über die Hamas in deutscher Sprache versucht nun, dieses krude Bild etwas geradezurücken.
Gleich eingangs beschreibt die Politologin Helga Baumgarten, die an der palästinensischen Birzeit-Universität lehrt, das Anliegen der meisten islamischen Bewegungen und damit auch der Hamas: die Modernisierung der eigenen Gesellschaft – aber nicht durch Übernahme westlicher Werte, die als fremd und durch den Kolonialismus aufgezwungen empfunden werden, sondern durch die Fortentwicklung eigener, „islamischer“ Werte.
Diese Utopie einer „islamischen Gesellschaft“, die soziale und formale Gerechtigkeit betont, haben einst die Muslimbrüder populär gemacht, die Urbewegung des politischen Islam, die 1928 in Ägypten gegründet wurde. Durch ihr Engagement im Bildungssektor, in der Armutsbekämpfung oder in der Gesundheitsfürsorge empfahlen sie sich als Alternative zu Sozialismus, Kapitalismus oder Liberalismus, je mehr diese aus dem Westen „importierten“ Systeme, von totalitären Regimes in der arabischen Welt adaptiert, an Glanz verloren.
In diesem Kontext ordnet Baumgarten die palästinensische Zweigstelle der Muslimbrüder ein. Vor die Wahl gestellt, sich am Widerstand gegen die israelische Besatzung zu beteiligen oder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, ging aus ihr 1987 die Widerstandsbewegung Hamas hervor, die Forderungen auf „ganz Palästina“ erhob und später das Osloer Abkommen und die Friedensverhandlungen der PLO ablehnte. Das gereichte ihr zum Vorteil, als die PLO nach Oslo auf allen Ebenen versagte: Weder stoppte das Abkommen den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten noch brachte es einen lebensfähigen palästinensischen Staat hervor. Dafür entstand dort unter Arafat eine korrupte Administration und eine neue Oberschicht, während die soziale Ungleichheit wuchs.
In den letzten Jahren modifizierte die Hamas ihre Position von einer pauschalen Ablehnung Israels hin zu einer pragmatischen Haltung, indem sie für ein Ende des bewaffneten Konflikts mit Israel nach dessen Rückzug aus den besetzten Gebieten eintrat. Dies – und nicht etwa religiös-ideologische Beweggründe – brachte der Hamas im Januar dieses Jahres den Wahlsieg ein, so Baumgarten. Auch die Hamas-Charta liest Baumgarten anders als mit dem gängigen westlichen Blick: Zwar sind Teile der Charta den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ entlehnt, diesem antisemitischen Machwerk aus Europa. Man sollte diese Charta aber nicht im Kontext des westlich-christlichen Antisemitismus lesen, so Baumgarten, sondern als Versuch, die Übermacht Israels und die schmerzhaften Niederlagen der gesamten arabischen Welt zu erklären.
Für die Hamas spielte die Charta ohnehin nie eine große Rolle, außerdem sei sie längst überholt. Im Appendix ihres Buches findet sich die Charta im Wortlaut erstmals auf Deutsch abgedruckt. Ihr gegenübergestellt ist das Wahlprogramm von 2006, das viel milder gehalten ist und die Entwicklung der Hamas hin zu einer pragmatischen Kraft dokumentiert: So kann sich jeder Leser selbst ein Bild machen.
Leider strotzt das Buch dennoch vor Ungenauigkeiten und unbewiesenen Behauptungen, die auf die unverhohlene Empathie der Autorin mit der palästinensischen Sache zurückzuführen sind. So hält sie sich mit kritischen Fragen zurück, was ihr Buch stellenweise wie ein Pamphlet wirken lässt. Auch drängt sich der Eindruck auf, dass es mit heißer Nadel geschrieben wurde.
Gerade weil die Hamas nicht nur eine Widerstandsbewegung ist, sondern eine größere Utopie verfolgt, wäre es wichtig, ihr Gesellschaftsmodell genauer zu untersuchen, etwa in Bezug auf ihre Vorstellungen über Moral und Anstand.
Amira Hass schaut da genauer hin: In „Morgen wird alles schlimmer“, das vor allem aus kleinen, tagebuchartigen Berichten besteht, zeichnet die Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha’aretz Israels Strategie der systematischen „Einsperrung der Palästinenser in immer kleineren Enklaven“ nach, den unaufhaltsamen, bis ins Detail durchgeplanten Landraub sowie den „Diebstahl von Zeit und der Möglichkeit, einer auch nur annähernd normalen Aktivität nachzugehen“.
Sie beobachtet, wie die Besatzung verhindert, dass sich emanzipatorische Kräfte bilden: In Israel scheint weder eine Alternative zu dessen Apartheid-ähnlicher Politik noch zur wachsenden sozialen und ethnischen Kluft in Sicht. Und in den besetzten Gebieten sind die Palästinenser kaum in der Lage, eine solidarische und zukunftsorientierte Gesellschaft aufzubauen: Das Leben wird flüchtig und die „fast grenzenlose Leidensfähigkeit“ verkommt zum wütenden, individuellen Widerstand, der „Bataillone von freiwilligen Selbstmördern“ gebiert. Deren unmenschliche Attentate haben nicht nur die Apathie unter den Palästinensern verstärkt, sondern auch den israelischen Staatsterror aus dem internationalen Bewusstsein verdrängt.
Helga Baumgarten: „Hamas. Aus dem palästinensischen Widerstand in die Regierung“. Diederichs 2006, 256 Seiten, 19,95 Euro. Amira Hass: „Intifada. Briefe aus Gaza und dem Westjordanland“. Beck, 208 Seiten, 19,90 Euro